Für seine Millionen Anhänger in aller Welt ist er fast ein Heiliger, für seine Gegner der Satan: Fethullah Gülen, der "Staatsfeind Nummer Eins" der Türkei, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan für den gescheiterten Putschversuch am vergangenen Freitag verantwortlich macht. Gülen lebt seit fast 20 Jahren zurückgezogen in den USA. Der Prediger wohnt abgeschieden im 1000-Seelen-Nest Saylorsburg im US-Bundesstaat Pennsylvania. Sein Rückzugsort ist das rund um die Uhr bewachte, weitläufige Gelände des Golden Generation Worship and Retreat Center.
Fethullah Gülen führt offenbar ein bescheidenes Leben
Der gesundheitlich angeschlagene 75-Jährige verlasse das von ihm bewohnte spirituelle Zentrum nur selten, schrieb der britische "Guardian" nach einem Interview-Termin. Die Anlage erwecke nicht den Eindruck, "die Höhle eines Verschwörers" zu sein. "Gülen lebt in einem kleinen Raum in einer zweistöckigen Backsteinhalle." Das Schlafzimmer lasse auf ein "spartanisches Leben" schließen.
Um Gülen, der höchst selten mit den Medien spricht, ranken sich zahllose Vermutungen und Gerüchte. Seine islamische Bewegung Hizmet (Dienst), die hunderte Schulen weltweit betreibt, auch in Deutschland, will nach eigenen Angaben Bildung, Wissenschaft und Dialog auf der Basis eines modernen Islam fördern. Auch viele Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen gehören zu Hizmet. In den USA kontrolliere Gülens Netzwerk milliardenschwere Geschäftsinteressen, Medienunternehmen, Banken und Baufirmen", berichtet die "New York Times".
In der Türkei hat die Bewegung in den Medien, der Polizei und der Justiz viele Unterstützer. Seine Gegner werfen Gülen allerdings vor, einen radikalen Islamismus zu befördern und in der Türkei einen Staat im Staate aufgebaut zu haben. Sam Brannan von der Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington betonte vor einiger Zeit, dass die Hizmet-Schulen der Bewegung tausende gut ausgebildete Anhänger beschert haben, die im türkischen Staatsdienst aufgestiegen seien: "Sie helfen sich gegenseitig, und sie verfügen über ein missionarisches Bewusstsein sowie über viel Geschäftssinn."

1999 flieht Gülen in die USA
Mit seinem Nationalismus hatte der aus dem Osten der Türkei stammende Gülen zunächst Anklang beim türkischen Staat gefunden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion galt er in den frühen 1990er-Jahren in Ankara als eine Art Botschafter für den erhofften türkischen Einfluss in Zentralasien. Doch dann kam der Verdacht auf, Gülen strebe einen islamistischen Umsturz an. Er floh deshalb 1999 in die USA.
Gülen und Erdoğan waren lange enge Vertraute und Partner, auch im Kampf gegen den politischen Einfluss des Militärs. Doch ihre Allianz zerbrach und schlug 2013 in erbitterte Feindschaft um. Hintergrund waren Korruptionsvorwürfe gegen das enge Umfeld von Erdoğan, gegen Minister und auch Erdoğans Sohn Bilal, die den damaligen Ministerpräsidenten immens in Bedrängnis brachten.
Erdoğan warf Gülen schon damals vor, er wolle seine Regierung stürzen. Der Ministerpräsident ließ hunderte Armee-Offiziere, sogar Generäle, aus ihren Positionen entfernen. Tausende Polizisten wurden entlassen, Hizmet-Schulen geschlossen. Vor zwei Jahren drohte Erdoğan Gülen und seinen Anhängern mit martialischen Worten: "Bis in ihre Höhlen werden wir sie verfolgen. Sie werden den Preis bezahlen."
Türkei erklärt Gülen-Bewegung zu Terrororganisation
Gegen Gülen selbst wurde im vergangenen September ein neuer Haftbefehl erlassen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm in einer 1453 Seiten langen Anklageschrift unter anderem die "Bildung einer Terrorgruppe" und "Umsturzversuche" vor. Die Anklage fordert lebenslange Haft, weil er Polizisten Anweisungen zum Sturz der Regierung gegeben haben soll. Der Prozess begann im Januar. Gülen bestritt von den USA aus alle Vorwürfe.
Für Aufsehen und Entrüstung weltweit sorgte, die Stürmung der der Gülen-Bewegung nahestehenden Tageszeitung "Zaman" im März durch die Polizei. Die Zeitung - eine der auflagenstärksten des Landes - wurde unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt und auf Kurs von Erdoğans AKP gezwungen.
USA fordern Beweise von der Türkei
Dass Erdoğan nun Gülen für den Putschversuch von Teilen des Militärs verantwortlich macht, weist der weißhaarige Prediger ebenfalls "kategorisch" zurück. In einem seiner seltenen Interviews hielt er es sogar für möglich, dass Erdoğan den Putsch selbst inszeniert habe. Im "Guardian" äußerte er die Vermutung, dadurch sollten die Anschuldigungen gegen ihn noch verstärkt werden.
Die USA würden die Vorwürfe gegen Gülen prüfen, sollte die Türkei ein offizielles Auslieferungsgesuch stellen, erklärte US-Außenminister John Kerry. Das sei aber bislang nicht geschehen. Zudem machte Kerry klar, dass sein Land einem solchen Gesuch nur nachkommen würde, wenn Beweise für eine Verwicklung von Gülen in den gescheiterten Militärputsch vorlägen. "Anschuldigungen reichen nicht."