Flutunglück in Texas "Wo sind unsere Mädchen?"

"Fluss verwandelt sich manchmal in Biest": So wurde "Camp Mystic" zur Todesfalle
"Fluss verwandelt sich manchmal in Biest": So wurde "Camp Mystic" zur Todesfalle
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Sehen Sie im Video: "Fluss verwandelt sich manchmal in Biest" – wie "Camp Mystic" zur Todesfalle wurde.
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Ein idyllisches Feriencamp in Texas wird von der Flut überrollt. Während Angehörige bangen, kritisieren Anwohner bereits die Behörden und: Trumps Personalabbau bei den Wetterdiensten.

Anne Hunt betet in ihrer Verzweiflung. Sie betet für ihre Tochter Janie. "Sie ist tapfer und hilfsbereit", sagt Hunt und hält ein Foto von Janie in die Fernsehkamera. Darauf zu sehen, ein strahlendes neunjähriges Mädchen mit gelbem Haarreif und Zahnlücke.

Die Mutter hofft, dass die Retter ihre Tochter finden. So wie die mittlerweile noch zehn Mädchen aus dem Ferienlager Camp Mystic, die seit der verheerenden Sturzflut am Freitag vermisst werden. Rund 70 Menschen wurden im Kerr County in Texas bisher tot geborgen, darunter 28 Kinder. Hunderte Rettungskräfte suchen seither Tag und Nacht das Ufer des Guadalupe River ab. Sie rufen die Namen der vermissten Mädchen, sie fahnden nach Kleidungsstücken, nach Zeichen von Leben in der Schlammwüste, die von dem Unglück zurückgeblieben ist. Mit jeder weiteren Stunde sinkt die Hoffnung. 

"Ich kann nur noch beten", sagt Hunt. Tränen rollen über ihr Gesicht.

Acht Meter Wasser in 45 Minuten: Zeitraffervideo zeigt rasante Texas-Flut
Acht Meter Wasser in 45 Minuten: Zeitraffervideo zeigt rasante Texas-Flut
© n-tv
Acht Meter in 45 Minuten: Zeitraffervideo zeigt rasante Texas-Flut
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Ein idyllisches Feriencamp wird zur Falle

Für die Mädchen im Camp Mystic hatten gerade die Ferien begonnen. Das christliche Ferienlager besteht schon seit Generationen, es liegt idyllisch am Ufer des Guadalupe River, bekannt für sein ruhiges und klares Wasser. Rund 750 Mädchen aus den ganzen USA freuten sich auf all die Abenteuer, die ein Feriencamp bereithält. Auf dem Programm standen Angeln und Kanufahren, Basketball und Cheerleading. Am 4. Juli hätten sie den amerikanischen Unabhängigkeitstag feiern wollen.

Doch dazu sollte es nie kommen.

Das Wasser kam mitten in der Nacht zu Freitag. Ein gewaltiger Sturzregen fiel in der Region, der Wasserstand des sonst so gemächlichen Guadalupe River stieg innerhalb von 45 Minuten um acht Meter an. Eine gewaltige Flutwelle traf das Camp Mystic mit voller Wucht – in einem Moment, in dem fast niemand wach war und niemand vorbereitet.

Die Kinder wurden um 1:30 Uhr morgens vom tobenden Sturm in ihren Unterkünften geweckt, mehrere Hundert Mädchen konnten sich retten. Eine 13-Jährige berichtet, dass Rettungskräfte sie mit Seilen aus den Fluten ziehen mussten, ehe sie ein Hubschrauber ausflog. "Das Lager wurde komplett zerstört", sagte das Mädchen. "Es war wirklich beängstigend."

Einen Tag später bleibt nur noch Trauer und Angst. Schlamm bedeckt die Unterkünfte des Lagers, die Schlafsäcke der Mädchen liegen verdreckt über das Gelände verstreut. Vom Speisesaal des Lagers fehlt eine komplette Wand, so gewaltig waren die Wassermassen. Vier der Mädchen sind laut ihren Familien in den Fluten ums Leben gekommen. Stand Samstagabend werden noch immer 27 Mädchen vermisst. Viele von ihnen hatten in den niedrig gelegenen "Junior"-Hütten geschlafen, nur 150 Meter vom Flussufer entfernt.

Blick in einen von den Fluten zerstörten Schlafsaal im Camp Mystic in Texas
Blick in einen von den Fluten zerstörten Schlafsaal im Camp Mystic in Texas
© Sergio Flores

Gegend in Texas ein beliebtes Ferienziel

Vor dem provisorischen Evakuierungszentrum in der nahegelegenen Kleinstadt Kerrville stehen Familien mit geröteten Augen, Handys in der einen Hand, Bibeln oder Kinderfotos in der anderen. Manche weinen leise. Andere starren ins Leere. Und alle stellen dieselbe Frage: "Wo sind unsere Mädchen?"

Eine von ihnen ist Carrie Hanna. Auch ihre 8-jährige Tochter Hadley wird noch vermisst. "Sie ist das fröhlichste, glücklichste Kind, immer mit einem Lächeln im Gesicht", erzählt die Mutter den anwesenden Reportern. "Hadley schien das Camp zu lieben. Es war ihr erstes Jahr."

Greg Abbott, der Gouverneur von Texas, machte sich am Samstag selbst ein Bild von dem überschwemmten Camp Mystic. Anschließend zeigte er sich fassungslos. Das Camp sei "in einer Weise verwüstet wurden, wie ich es noch bei keiner Naturkatastrophe gesehen habe", schrieb Abbott auf X. "Wir werden nicht aufhören, bis wir jedes Mädchen gefunden haben, das in diesen Hütten war", versprach er.

Die Gegend rund um den Guadalupe River gilt als beliebtes Ferienziel. Viele Urlauber waren für das verlängerte Feiertagswochenende an den Fluss gefahren. In den Sommermonaten finden hier gleich mehrere Ferienlager statt, darunter das Jungscamp La Junta, das nur wenige Kilometer vom Camp Mystic entfernt liegt. Alle Kinder dort konnten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden, teilte das Camp mit. Ein weiteres nahe gelegenes Mädchencamp, Heart o' the Hills, war zum Zeitpunkt der Überschwemmung noch nicht geöffnet. Später wurde bekannt, dass auch dessen Leiterin Jane Ragsdale zu den bestätigten Todesopfern gehört.

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Viele in Kerr County fühlten sich an eine ähnliche Sturzflut in den 1980er Jahren zurückerinnert. Damals waren in der gleichen Gegend zehn Menschen ums Leben gekommen.

Schwere Vorwürfe an die Behörden

Die Lage war auch am Samstag noch unübersichtlich. Stromausfälle und fehlendes Internet erschwerten die Suche. Mehr als tausend Rettungskräfte waren im Einsatz, um das überschwemmte Gelände rund um den Guadalupe River nach den Vermissten zu durchkämmen. Teilweise wurden Leichen aus weggespülten Autos geborgen. Andere Vermisste konnten mit Hubschraubern von Bäumen gerettet werden. Insgesamt seien bislang mehr als 850 Menschen gerettet worden, verkündete Gouverneur Abbott am Samstagabend. Zuvor hatte er den Katastrophenfall ausgerufen, um mehr staatliche Gelder für die Suche anzufordern.

Präsident Donald Trump versprach rasche Hilfe. "Melania und ich beten für alle Familien, die von dieser furchtbaren Tragödie betroffen sind", schrieb Trump am Samstag auf Truth Social.

Die Anwohner von Kerr County erheben unterdessen schwere Vorwürfe an die Behörden. Zwar hatte die Wettervorhersage Starkregen für die Region angekündigt, doch die Hochwasserwarnung erreichte viele Menschen in der Flussgegend um das Camp Mystic zu spät. Dan Patrick, der Vizegouverneur von Texas, verteidigte das Vorgehen: "Es wurde alles getan, um die Menschen darauf hinzuweisen, dass es zu starken Regenfällen kommen könnte, aber wir wissen nicht genau, wo diese niedergehen werden." 

Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Warnungen zu spät an die Bevölkerung weitergegeben wurden. Und dass das Ausmaß grob unterschätzt wurde. So wurde inzwischen bekannt, dass wichtige Stellen in den lokalen Büros des Nationalen Wetterdienstes zum Zeitpunkt der Sturzflut nicht besetzt waren. Dies wirft die Frage auf, ob die Personalknappheit es dem Wetterdienst erschwerte, sich rechtzeitig mit den lokalen Notfallmanagern abzustimmen. Die Trump-Regierung hatte in den vergangenen Monaten massive Personalkürzungen beim Nationalen Wetterdienst und den Katastrophenschutzbehörden vorgenommen. Heimatschutzministerin Kristi Noem, die am Samstag nach Texas gereist war, erklärte, sie werde den Präsidenten über die Kritik informieren.

Tag und Nacht im Einsatz: Über tausend Rettungskräfte suchen nach der Flut in Texas nach Überlebenden
Tag und Nacht im Einsatz: Über tausend Rettungskräfte suchen nach der Flut in Texas nach Überlebenden
© Eric Vryn

"Ich bete für die anderen Mädchen" 

Für die Angehörigen der vermissten Mädchen stehen in diesen Stunden andere Fragen im Vordergrund. In Texas, aber auch in Alabama, Louisiana und Arkansas haben sich seit Freitag Eltern und ehemalige Camperinnen in WhatsApp- und Facebook-Gruppen organisiert. Sie schicken Drohnenaufnahmen, teilen Gerüchte und Gebete. "Praying for Mystic", schreiben einige. Andere posten den Bibelvers Johannes 1,5: "Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht überwunden."

In einer Gruppe mit dem Namen "Mystic Strong" schreibt eine Mutter: "Meine Tochter wurde heute Morgen gefunden – auf einer Wiese, durchnässt, aber lebendig. Ich bete für die anderen Mädchen." Eine andere antwortet: "Wir haben noch nichts gehört."

Am Samstagmorgen erfährt Anne Hunt, dass ihre Tochter Janie die Flutwelle nicht überlebt hat. Auch die 9-jährige Lila Bonner konnte nicht mehr lebendig geborgen werden. Ihre Familie schreibt: "Wir trauern mit allen, die sie geliebt haben, und beten unaufhörlich dafür, dass anderen dieser tragische Verlust erspart bleibt."

Für Carrie Hanna, die Mutter der 8-jährigen Hadley, geht das Hoffen auf ein Lebenszeichen weiter.

Transparenzhinweis: Dieser Text wurde aktualisiert.

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