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stern-Korrespondent Raphael Geiger Meine Erfahrung mit der unberechenbaren Türkei - #FreeDenizYücel

Raphael Geiger war zuletzt stern-Korrespondent in der Türkei
Raphael Geiger war zuletzt stern-Korrespondent in der Türkei
© Henning Kaiser/DPA
Raphael Geiger kennt aus seiner Erfahrung als stern-Türkei-Korrespondent die Arbeitsbedingungen in dem Land, das den "Welt"-Journalisten Deniz Yücel in U-Haft hält. Hier schildert er seine Eindrücke. Über die Kontrollmechanismen einer Diktatur.

Manchmal kommen Dinge nicht überraschend, sie kündigen sich lange an, und dann ist man trotzdem erschlagen, wenn man merkt: Jetzt ist es geschehen. Ich dachte schon oft, dass ist er jetzt, der Beweis, dass es die Demokratie in der Türkei nicht mehr gibt.  

Nach dem Putschversuch dachte ich es, als Menschen eingesperrt wurden, die erwiesenermaßen nichts mit dem Putsch zu tun hatten. Ihre Namen standen auf Listen, die jemand schon lange vor dieser Nacht aufgesetzt hatte.

Was unterscheidet die Türkei noch von einer Diktatur?

Ich dachte es im Herbst, als eine Redaktion nach der anderen geschlossen und viele Journalisten festgenommen wurden. Als ich die Redaktion der Cumhuriyet besuchte, deren Chefredakteur mit mehreren Kollegen bis heute nicht freigekommen ist.

Als die Polizei die Vorsitzenden und viele, viele Funktionäre der pro-kurdischen HDP holen kam, da dachte ich: Was unterscheidet dieses Land noch von der Diktatur?

Und so war es auch, als Erdogans Partei, die AKP, eine Verfassung ausarbeiten ließ, die nichts anderes ist als eine Bemächtigung zur Alleinherrschaft.

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Nein, sagten manche Kollegen, auch Korrespondenten in Istanbul: Diktatur, das sei ein Wort, mit dem müsse man vorsichtig sein. Autokratie? Ja. Autoritärer Herrscher? Klar. Aber ein Diktator?

Aber schon die Art und Weise, mit der ich als Korrespondent in den letzten Monaten in der Türkei gearbeitet habe, sagt etwas aus über dieses Land.

Die Angst der türkischen Kollegen

Dass mein Handy auf Recherchen abgehört wurde, war mir klar. Einmal bin ich zwei Stunden lang an einem Polizeiposten im kurdischen Diyarbakir festgehalten worden, nur weil unser Team auf der Straße Fotos gemacht hatte. Der Staatsanwalt befahl den Polizisten am Telefon, sie sollten uns mitnehmen. Irgendwann kam ein älterer Zivilpolizist, einer von der Antiterroreinheit, er notierte sich unsere Handynummern und unsere Zimmernummern im Hotel, und ließ uns dann gehen.

Überwachung ist für mich nichts Abstraktes mehr. Es ist konkret. Das heißt vor allem, dass ich mit Interviewpartnern zuletzt kaum noch am Telefon gesprochen habe. Dass ich mir genau überlegte, was ich über Protagonisten in meinen Texten preisgeben kann. Wie sehr ich sie schützen muss.

Türkische Kollegen erzählen mir von der Angst, wenn sie nachts in ihrem Haus den Aufzug nach oben fahren hören. Wie sie zuerst daran denken, was sie mit ihrem Laptop machen, also mit dem Material auf der Festplatte.

Sie erzählen von diesem enormen Druck: Kann ich das schreiben? Ja, muss ich, aber kann ich mit den Konsequenzen leben? Den Mob auf Twitter halten sie aus. Aber den Gedanken, dass nachts die Polizei kommt? Dass sie von nichts mehr leben können?

Was mein Kollege von der "Welt", Deniz Yücel, seit zwei Wochen und einem Tag durchmachen muss, ist beschämend. Ich habe in der Türkei nie etwas annähernd Vergleichbares erlebt wie Yücel. Aber es bestürzt mich, weil auch ich weiß, wie unberechenbar dieser türkische Staat sein kann, wie ohnmächtig man sich fühlt ihm gegenüber.

Deniz Yücel: Vorwurf der Terrorpropaganda

Ein Journalist wie Deniz Yücel wird eingesperrt, und der Vorwurf ist schon fast das Übliche: Terrorpropaganda. Es kann sein, dass er monatelang in U-Haft bleibt. Nichts hat er getan. Er hat einfach nur geschrieben. Wie wir alle, wir Journalisten.

Ist das Land auf dem Weg in die Diktatur? Ist es nicht schon längst eine?

Das ganze Drama der Türkei liest sich aus den Zeilen des Haft-Protokolls, das Yücel seinen Anwälten diktierte. Die stille Verzweiflung. Ein Staat sperrt seine Bürger ein, ohne Recht. Das Rechtssystem ist keines mehr, es ist mehr ein Gefängnissystem. Legitimiert von treu ergebenen Richtern und Staatsanwälten.

Was Deniz Yücel durchmacht, ist das Schicksal aller, die in der Türkei noch offen ihre Meinung sagen - wenn es eine ist, die der Regierung nicht gefällt.

Ich weiß nicht, wie man es noch nennen soll, wenn Journalisten und Oppositionelle weggesperrt werden und es faktisch kein Mittel mehr gibt gegen den Präsidenten. Wahlen finden auch in Ägypten und Russland statt, aber dass die Opposition sie gewinnt, ist so gut wie ausgeschlossen.

Niemand kann Erdogan noch gefährlich werden, das ist die Realität. Man kann sie, etwas vornehmer, Autokratie nennen. Oder man sagt eben Diktatur dazu.

Millionen sind traurig. Menschen, die die Türkei gemocht haben, vielleicht sogar geliebt. Dieses Land gibt es nicht mehr. 

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