Gaza-Streifen "Keine Chance zu entkommen"

  • von Manuela Pfohl
Seit mehr als einer Woche fallen israelische Bomben und Raketen auf den Gaza-Streifen. Die Lage der rund 1,5 Millionen Menschen in dem palästinensischen Gebiet wird immer prekärer. Internationale Hilfsorganisationen warnen vor einer humanitären Katastrophe.

Als nach einem Raketenangriff am Morgen die Fensterscheiben im Al Ahli Hospital in Gaza brachen, wusste Suheila Tarazi in einem Moment der Wut und Verzweiflung nicht, was sie noch tun sollte. Die Leiterin des Krankenhauses, das 1882 von einem kirchlichen Missionswerk gegründet wurde, kämpft mit ihren Kollegen seit Monaten darum, den Klinikbetrieb irgendwie aufrecht zu erhalten. Sie haben der 18 Monate dauernden israelischen Blockade des Gaza-Streifens getrotzt, den immer knapper werdenden medizinischen Mitteln, dem oft fehlenden Wasser und dem immer wieder abgestellten Strom. Doch seit den jüngsten Angriffen der Israelis auf den Gaza-Streifen scheint jedes Mühen umsonst.

In der ohnehin angespannten Versorgungslage ist die zusätzliche Belastung durch den Krieg kaum zu verkraften. Die Zahl der Betten reicht längst nicht mehr aus, um alle Bedürftigen im Krankenhaus zu versorgen. Stündlich suchen neue Verletzte Hilfe. Nach offiziellen Angaben sollen bislang 520 Bewohner des Gaza-Streifens durch den Krieg ums Leben gekommen sein. Mehr als 1330 seien verletzt worden. "Wir leiden nicht nur unter dem täglichen Bombardement, wir leiden auch unter den täglichen Stromausfällen, dem Mangel an Nahrung, Wasser, Gütern des täglichen Bedarfs und medizinischem Material", sagt Suheila Tarazi.

Mit Nylontaschen versuchten Ärzte, Schwestern und freiwillige Helfer die zerborstenen Fenster im Krankenhaus abzudecken. Staub und Lärm des Krieges sollen draußen bleiben. Im Al Ahli Hospital geht es einzig und allein darum, Menschen zu helfen. Unzählige Patienten sind in den vergangenen Tagen gekommen. Die meisten haben Verletzungen durch die Einschläge der Raketen und Panzergranaten. Viele sind aber auch ganz reguläre Patienten. Solche, die zur Dialyse kommen, wegen Herzproblemen einen Arzt brauchen oder weil eine Geburt ansteht. Kaum einem kann noch geholfen werden. Es fehlt praktisch an allem.

Ein humanitäres Desaster, das Claudette Habesch von der Caritas Jerusalem kaum in Worte fassen kann. "Was hier passiert, ist Krieg. Krieg gegen Zivilisten, gegen Menschen, die keine Chance haben, dem Elend zu entkommen." Viele Ärzte mit denen Caritas in Kontakt steht, seien nicht mehr in der Lage, das medizinische Zentrum der Caritas in Gaza-Stadt zu erreichen, weil die Umgebung permanent beschossen würde. Auch das mobile Krankenhaus könne wegen der israelischen Angriffe kaum noch arbeiten.

Ohne Strom keine Operationen

Rainer Lang von der Diakonie Katastrophenhilfe Deutschland erklärt, dass die Partnerorganisationen die medizinische Versorgung in ihren Gesundheitszentren bislang gerade noch aufrechterhalten konnten. Der Bedarf, vor allem in den völlig überfüllten Krankenhäusern sei aber immens. "Wenn der Nachschub von medizinischen Gütern, Nahrungsmitteln und Treibstoff ausbleibt, muss der Betrieb eingestellt werden." 50.000 Euro hat die Diakonie für die Nothilfe bereitgestellt. Die Vereinten Nationen haben zugesagt, die Güter mit einem internationalen Hilfskonvoi in das Palästinensergebiet zu bringen. Wann, das ist noch offen.

Auch im Al Shifa, dem größten und wichtigsten Krankenhaus des Gaza-Streifens ist die Lage prekär. Zu den regulären sechs OP-Sälen seien sechs weitere OP-Einheiten eingerichtet worden. Dennoch reiche die Kapazität nicht aus, um alle Opfer zu versorgen. Viele Verletzte liegen notdürftig versorgt auf dem Boden im Flur. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums seien wegen des Mangels an medizinischer Ausrüstung bereits mehrere Menschen gestorben. Die Generatoren des Krankenhauses seien so konzipiert, dass sie zwei bis drei Stunden täglich laufen. Tatsächlich würden sie aber wegen der Stromausfälle 12 bis 16 Stunden täglich gebraucht. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann sie wegen Überlastung ausfallen. Dann allerdings könne niemand mehr operiert werden.

Ärzten Zugang zum Gaza-Streifen verwehrt

Einem Ärzteteam des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) wird nach Angaben der Organisation seit Tagen der Zugang zum Gazastreifen verwehrt. Das Team aus zwei Ärzten und zwei Krankenschwestern sollte am Freitag in den Gazastreifen reisen, um erschöpften palästinensischen Medizinern bei der Versorgung von Verletzten zu helfen, wie das IKRK am Sonntag in Genf bekannt gab. Die fachliche Kompetenz des IKRK-Teams sei "dringend nötig", da es viele schwierige Verletzungen gebe. Seit Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen sei die Mobilität von Helferteams von den israelischen Behörden aus Sicherheitsgründen zusätzlich stark eingeschränkt worden.

Sorge bereitet den palästinensischen Ärzten und den internationalen Hilfsorganisationen auch die Lage der Kinder im Gaza-Streifen. Rund 1,5 Millionen Menschen leben unter meist katastrophalen sozialen Bedingungen im Gaza-Streifen. Viele Familien haben ihre Wohnungen durch den Raketenbeschuss verloren, andere wiederum haben ihre Häuser aus Angst vor Angriffen verlassen, die meisten nehmen die Warnung der Israelis sehr ernst, dass eine Bombardierung bevorsteht und sie ihre Wohnungen räumen sollen. Allerdings bleibt den Wenigsten eine Alternative. Die meisten Familien leben unterhalb der Armutsgrenze. Nach der Blockade der Israelis ist von dem wenigen, das die Menschen haben, kaum etwas geblieben. So leiden die Kinder nicht nur an Hunger, Durst und Kälte, sie leiden auch an der Angst und der Unsicherheit ihrer Eltern.

"Es hörte einfach auf zu atmen"

Ali Mohammed Abu Shamaleh lebt in der Nähe der islamischen Universität in Gaza, die in den vergangenen Tagen bombardiert wurde. Der 30-Jährige ist arbeitslos, verheiratet und hat zwei Kinder. "Als die Universität beschossen wurde, bekam mein dreijähriges Kind einen Schock. Es hörte plötzlich auf zu atmen. Meine Frau weinte und wusste nicht, was sie tun sollte. Ich schrie und schüttelte das Kind, und glücklicherweise begann es nach einiger Zeit wieder zu atmen. Es war einfach furchtbar", berichtet der Familienvater und meint: "Es ist eine schreckliche Situation. Überall fallen Bomben, wo immer du gehst, kannst du sterben. Wir wissen nicht, wo wir uns verstecken können und wo wir mit unseren Kindern sicher sind." Die Familie besitzt gerade noch für zwei Tage Lebensmittel. "Was danach wird, weiß niemand."

Ähnlich dramatisch beschreibt die Hilfsorganisation World Vision die Situation. Die Eskalation im Gaza-Streifen sei ohne jeden Vergleich an Zerstörungsgewalt und Ausmaß. Nach Wochen der Blockade durch Israel und des Verweigerns selbst humanitärer Nothilfe zerstöre die Militärintervention seit dem 27. Dezember den Rest der Hoffnung. "Seit dem Jahr 2000 wurden mehr als 1000 palästinensische und 100 israelische Kinder ermordet oder schwer verwundet. Jetzt kommen täglich weitere dazu. Von einer ganzen Generation zu Tode verängstigter und von Gewalt geprägter Kinder auf beiden Seiten ganz zu schweigen", sagt Elmar Kuhn von World Vision Österreich. Die World Vision-Projekte in Gaza unterstützen alleine in Beit Lahia und Rafah 50.000 Menschen, darunter tausende Kinder. Psychosoziale Hilfe, Bildungsinitiativen und Erholungsaktivitäten für Kinder sind das Zentrum der Hilfe. Viele Erfolge seien bereits erzielt worden. "Doch die neue Welle der Gewalt wirft alle Programme zurück", ist Charles Clayton, Direktor des World Vision Büros in Jerusalem überzeugt. "Die Verantwortung und Pflicht aller am Konflikt beteiligten Parteien muss es sein, die Kinder zu schützen. Das fordert auch die UN-Konvention für die Rechte der Kinder."

"Bruch von Menschenrecht"

EU-Entwicklungskommissar Louis Michel hat Israel zur Schaffung eines "humanitären Korridors" für Hilfslieferungen in dem Gazastreifen aufgerufen. "Den Zugang zu Menschen zu blockieren, die leiden und sterben, ist ein Bruch von Menschenrecht", sagte Michel am Sonntag. "Eineinhalb Millionen Menschen sind in dieses Gebiet eingepfercht, das nur etwa einem Prozent der Größe Belgiens entspricht. Sie sind auf Hilfe von außen angewiesen, und mit jedem Tag, der verstreicht, wird ihre Lage verzweifelter." Attacken beider Seiten, die Zivilisten töteten oder verletzten, seien inakzeptabel.

Die Europäische Kommission stellt für den Gazastreifen 3 Millionen Euro Nothilfe zur Verfügung. Mit dem Geld solle den von den israelischen Luftangriffen und Blockaden betroffenen Zivilisten geholfen werden.