Giuliano Amato, 85, ist ein verdienter Staatsmann. Der Sozialist und gebürtige Turiner war zweimal Ministerpräsident und hat seinem Land viele Jahre lang als Verfassungsrichter gedient. Er blickt auf ein erfülltes öffentliches Leben zurück. Doch da ist noch etwas, das den schmächtigen Mann mit dem spitzen Gesicht bedrückt: Ein ungelöster Fall, der 43 Jahre zurückliegt und Amato wie viele seiner Landsleute bis heute nicht loslässt. Eine Art nationales Trauma Italiens.
Im Juni 1980 stürzte ein Passagierflugzeug der italienischen Fluglinie Itavia unweit der kleinen Insel Ustica nördlich von Sizilien ins Meer. Flug 870 war auf dem Weg von Bologna nach Palermo. Keiner der 81 Insassen an Bord überlebte. Was genau passierte, ist unklar. Im Luftraum war zeitgleich ein NATO-Manöver im Gang. Bis heute hält sich das Gerücht, die Itavia-Maschine könnte abgeschossen worden sein. Auch darum bewegt der "Fall Ustica" noch immer viele in Italien.
Frankreich unter Verdacht
Nun sei die Zeit reif für die Wahrheit, sagte Ex-Premier Amato vor wenigen Tagen in einem großen Interview mit der italienischen Tageszeitung "La Repubblica". Das NATO-Manöver soll ihm zufolge eine Inszenierung gewesen sein mit dem Ziel, den lybischen Diktator Muammar al-Gaddafi zu ermorden. Der soll zum fraglichen Zeitpunkt in der gleichen Gegend an Bord eines lybischen Jets auf dem Weg zu einem Staatsbesuch nach Polen gewesen sein.
Die Franzosen standen damals mit Gaddafi in Konflikt, weil der Frankreichs Einfluss in Afrika unterminierte, vor allem im strategisch wichtigen Tschad. Den Amerikanern wiederum galt der Herrscher aus Tripolis als Terror-Sponsor, in den 1980er Jahren avancierte Gaddafi zum Staatsfeind Nr. 1 der USA.
Eine französische Rakete, die eigentlich Gaddafis Flugzeug gegolten habe, habe an jenem 27. Juni 1980 die italienische Maschine getroffen, so Amatos These. Franzosen und Amerikaner hätten den geplanten Abschuss des Gaddafi-Jets wie einen Unfall aussehen lassen wollen – daher das eigens zu diesem Zweck simulierte Manöver. Gaddafi soll aber zuvor gewarnt worden und nicht an Bord gewesen sein.
Das Trauma von Ustica
Amato ist einer der wenigen zentralen Figuren aus dieser Zeit, die noch am Leben sind. Jemand, so glauben viele in Italien, der wissen könnte, was damals wirklich geschah. Darum findet er Gehör. Drei Jahre nach der Katastrophe wurde er 1983 als Staatssekretär des Ministerpräsidenten Bettino Craxi mit den Ermittlungen zum Fall Ustica betraut. Craxi wiederum ist bekannt für seine engen Beziehungen zu Libyen. Möglicherweise hat er selbst damals Gaddafi gewarnt, vermuten manche Kommentatoren; andere gehen davon aus, dass es die italienischen Geheimdienste waren.
Viele Fragen in diesem Fall sind noch offen. Nun drängt es Amato, Licht ins Dunkel zu bringen, solange die letzten Zeitzeugen noch aussagen können. Er ist selbst einer von ihnen und möchte mit dem "Massaker von Ustica" innerlich abschließen, wie er sagt. Die Flugzeugkatastrophe nennt Amato eine "offene Wunde, die sich nicht schließen kann". Frankreich solle sich für das Unglück entschuldigen. Nach Jahrzehnten des Verschweigens und Verschleierns sei es an der Zeit, den Angehörigen der Opfer eine Erklärung zu geben. In Europa sei eine neue Politikergeneration an der Macht, Gaddafis Regime Geschichte. Das sind nach Amatos Ansicht gute Bedingungen, um den Fall endlich aufzuklären.
Amatos Interview sorgt für einigen Wirbel. Denn das italienisch-französische Verhältnis ist so angespannt wie lange nicht – nicht nur wegen des Falls Ustica. Streit gibt es schon seit Monaten in der Flüchtlingspolitik. Der dreht sich um die Aufnahme von Mittelmeer-Migranten. Nachdem Italien seine Häfen zeitweilig dicht gemacht hatte, sah sich Frankreich gezwungen, sie widerwillig aufzunehmen. Das kam nicht gut an in Paris.
Rekonstruktion der Flugzeug-Katastrophe
Amatos Vorwürfe machen die Lage nun zusätzlich kompliziert. Frankreichs Regierung hat in einer kurzen Reaktion erklärt, man habe stets Rechtshilfe bei der Aufklärung des Unglücks geleistet und sei dazu auch weiter bereit. In Italien aber vermuten viele, Paris habe bis heute etwas zu verbergen. Und nicht nur Paris. Der Fall Ustica betrifft gemäß Amatos Theorie vom Absturz schließlich auch die Nato.
Nach dem Interview wird die Staatsanwaltschaft in Rom Amato in den nächsten Tagen anhören und seine Aussagen zu Protokoll nehmen. Die Ermittler werden prüfen, ob sich aus dem Zeugnis Amatos neue Anhaltspunkte zur Wahrheitsfindung ergeben. Stichhaltige Beweise für seine Vorwürfe bleibt der Ex-Premier bisher zwar schuldig. Doch er führt an, dass zu seiner Zeit als Staatssekretär des Ministerpräsidenten Craxi in den Jahren nach dem Unglück italienische Militärs und Generäle in seinem Büro ein- und ausgegangen waren. Unisono hätten die die These vertreten, dass eine Bombe an Bord der Maschine vom Typ DC-9 explodiert sei. Es sei ihnen darum gegangen, ihre Ehre und die ihrer Verbündeten zu retten, behauptet Amato.
Nachdem das Wrack aus mehr als 3000 Metern Tiefe geborgen und in einem Hangar wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt wurde, konnte die These von der Bombe an Bord mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden. Im August 1999 entschied der Untersuchungsrichter Rosario Priore, dass die Unfallursache auf eine militärische Abfangaktion zurückzuführen sei. Priore hatte gegen vier italienische Generäle und fünf Geheimdienstler wegen Hochverrats und Verschleierung Anklage erhoben. Die Generäle der Luftwaffe wurden 2007 vom Kassationshof in Rom freigesprochen.
2008 sagte der damalige Ministerpräsident Francesco Cossiga vor Gericht aus, er habe von Geheimdienstchef Fulvio Martini erfahren, dass ein französischer Jet die Rakete abgeschossen habe. Martini wollte seine Äußerung jedoch vor den Richtern nicht wiederholen. Vor einem Zivilgericht wurde der italienische Staat zu insgesamt mehr als 400 Millionen Euro Schadensersatz für die Angehörigen der Opfer verklagt, weil Italiens Flugsicherheitsbehörden ihre Pflicht verletzt hätten, die Sicherheit der Passagiere zu gewährleisten. Mit Erfolg, das Geld floss an die Hinterbliebenen.
Auf eine vollständige Rekonstruktion der verhängnisvollen Nacht im Luftraum vor Nordsizilien warten die Angehörigen bis heute. Eine These ist, dass der libysche Jet von NATO-Jagdflugzeugen verfolgt wurde und hinter der Passagiermaschine in Deckung gegangen war. Die Vorsitzende des Verbands der Angehörigen der Opfer Daria Bonfietti begrüßt den Vorstoß Amatos: "Es ist sehr wichtig, das ganze Geschehen auf der Grundlage aller Informationen, die den Richtern bereits zur Verfügung stehen, noch einmal zu untersuchen. Wir wissen von Cossiga, dass es die Franzosen waren, aber sie übernehmen keine Verantwortung dafür", behauptet Bonfietti.
Politischer Zündstoff
Amatos Anschuldigungen in Richtung Frankreich rufen auch unter Italiens Spitzenpolitikern heftige Reaktionen hervor. Premierministerin Giorgia Meloni sprach von "wichtigen Worten", die aber erstmal nur Amatos persönliche Schlussfolgerungen seien. Sie ist sichtlich bemüht, das ohnehin schon schwierige Verhältnis zu Paris nicht weiter zu belasten. Die oppositionelle Fünf-Sterne-Politikerin Vittoria Baldino forderte die Regierung hingegen auf, die Wahrheit von der französischen Regierung einzufordern. Kritisch äußerte sich Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi. Er sagte, die Familien der 81 Opfer sollten die Wahrheit in einem Gerichtssaal erfahren und nicht aus einem Interview.
Ex-Premier Amato entgegnete, eine Lösung des Falls nach so langer Zeit sei nur auf politischer Ebene möglich. Er wolle das italienisch-französische Verhältnis von Altlasten befreien und Frieden stiften. Denn Europa brauche Eintracht, um sich den Herausforderungen der Zukunft stellen zu können.
Doch diese Hoffnung scheint sich nicht zu erfüllen, im Gegenteil: Es sieht danach aus, als würde das Trauma von Ustica den Graben zwischen Frankreich und Italien nach 43 Jahren weiter vertiefen.