आश्चर्य.
Das ist Hindi und bedeutet soviel wie "Überraschung". Denn eine solche ist das Ergebnis der größten Wahl der Menschheitsgeschichte allemal. Entgegen allen Erwartungen haben Narendra Modi und seine BJP beim Urnengang in Indien eine deftige Klatsche kassiert.
Dass sich Verlierer zu Gewinnern stilisieren, ist freilich nichts Neues. Und so ließ Modi schnell verlautbaren, die Inder hätten seiner Regierungskoalition "zum dritten Mal in Folge ihr Vertrauen ausgesprochen". Was "Vertrauen" heißt, darüber kann man in diesem Fall streiten. Worüber sich nicht streiten lässt: 240 ist nicht 401. So viele Parlamentssitze sollten es eigentlich mindestens werden. Doch statt per "Super-Mehrheit" die Verfassung ändern zu können, haben die Hindu-Nationalisten ihre absolute Mehrheit zum Durchregieren verloren. Modi wird zwar erwartungsgemäß seine dritte Amtszeit antreten, ist aber zum ersten Mal auf außerparteiliche Hilfe angewiesen.
Die einzig nennenswerte Oppositionspartei, der Indische Nationalkongress um Spitzenkandidat Rahul Gandhi (nein, nicht mit dem Gandhi verwandt oder verschwägert), hat kräftig zugelegt, trotz einer BJP-hörigen Medienlandschaft. Deren Bündnis mit mehr als einem Dutzend regionaler Parteien, das den sperrigen Namen Indian National Developmental Inclusive Alliance trägt (oder weniger sperrig: INDIA), kommt auf stolze 234 Sitze im Unterhaus, der Lok Sabha.

Wie es so weit kommen konnte? In drei Worten: Realität schlägt Kult.
Kultführer Modi: mehr Schein als Sein
Modi wird die Wahlniederlage persönlich nehmen. Muss er auch. Schließlich fußte der gesamte BJP-Wahlkampf auf dem Personenkult, den die Hindu-Nationalisten um den 73-Jährigen aufgebaut hatten. Der Premier als Götzenbild: Modi, strenger, aber fürsorglicher Vater der Nation.
Nur lässt sich vom Glauben nichts kaufen. "Letztlich sind es die Preise für Kartoffeln und andere lebenswichtige Dinge, die zählen", sagte Indien-Experte Sumit Ganguly von der Universität Indiana gegenüber dem Online-Fachmagazin "Conversation".
Als National-Patriarch hatte Modi die Lorbeeren für die brummende Wirtschaft eingestrichen. Was auf dem Papier tatsächlich beeindruckend ist (das Land hat sich unter ihm zu fünftstärksten Volkswirtschaft der Welt gemausert), ist für den Normalinder nicht zu spüren, im Gegenteil. Die Arbeitslosigkeit wächst, Preise steigen, Löhne stagnieren. 800 Millionen Menschen sind auf dem Subkontinent auf Sozialhilfe angewiesen. Da halfen Prestigeprojekte wie Autobahnen und Flughäfen wenig.
"Politik, die auf Religion basiert, ist wertlos […] Was wir wollen, ist Strom rund um die Uhr, ausreichend Wasser für die Bewässerung und Chancen für unsere Kinder", zitierte die indische Journalistin Barkha Dut einen Bauern aus Uttar Pradesh in einem Gastbeitrag für die "Washington Post". Auch in dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat im Norden des Landes ging die BJP unter – obwohl die Region eigentlich als Wiege des Hindu-Nationalismus gilt.
Unterdrückung von Muslimen in Indien: Hass allein reicht nicht
Dabei hat(te) Modi große Pläne: Als Sprössling der hindu-faschistischen Organisation RSS ist er Anhänger er der sogenannten Hindutva-Ideologie. Aus dem Staat der vielen Völker, Sprachen und vor allem Religionen will er eine Einheitsnation unter der politisch-kulturellen Herrschaft der hinduistischen Mehrheit formen.
Eine Diktatur der vielen bedeutet die Unterdrückung der wenigen. Nun ist diese Minderheit mit 200 Millionen Menschen gar nicht mal so klein. Trotzdem stehen Muslime für Modi nicht einmal an zweiter Stelle. Oder an dritter. Unter seiner Regentschaft wurden Städte mit muslimischen Namen umbenannt, Geschichtsbücher umgeschrieben, Einwanderungsgesetze massiv verschärft und sogar der einzige mehrheitlich muslimische Bundesstaat Kaschmir entzweigerissen, indem man ihm den Sonderstatus aberkannte.
Zwar scheute sich auch die Opposition angesichts des BJP-geförderten Hasses davor, muslimische Kandidaten aufzustellen. Doch brachte Haupthetzer Modi seine Sündenbockrhetorik letztlich wenig. Sogar in der Stadt Ayodhya verlor die BJP ihren Sitz: dort, wo Modi seinen Wahlkampf in hochumstrittenen, neugebauten Hindu-Tempel begonnen hatte. Auf den Ruinen einer Moschee, die 1992 von radikalen Hindus geschleift worden war.
Alles auf Modi – rächt sich das für die BJP?
642 Millionen Wähler lügen nicht. Er flackert, der BJP-Fixstern. Vielleicht, und nur vielleicht, ist die Abstrafung der vermeintlich unschlagbaren Quasi-Staatspartei ein Zeichen dafür, dass sie lebt, die indische Demokratie.
Trotzdem bleibt Modi weitere fünf Jahre an der Macht. Um sich die nötige Mehrheit zu sichern, wird er die Unterstützung zweier koalitionswilliger Regionalparteien brauchen – vermutlich im Austausch gegen weniger wichtige Kabinettsposten. Am Ende wird Modi der am längsten amtierende Premier seit Indiens erstem Regierungschef Jawaharlal Nehru sein.
Umfragen zufolge ist Modi immer noch doppelt so beliebt wie seine Partei. Der vermeintliche Premier von Göttergnaden ist allerdings Ü-70 und hat bislang keinen Nachfolger auserkoren. Und für Parteien gilt das gleiche wie für Unternehmen: Alles auf eine Karte zu setzen, das ist immer gefährlich. Zumal sich Personenkulte eben nur schwerlich mit Gewaltenteilung vertragen. Im Gegensatz zu Demokratien.
Quellen: BBC; "Vox"; "Time Magazine"; "Conversation"; "Foreign Policy"; "New York Times"; "Atlantic Council"