Das Verfahren wegen des Vorwurfs des Völkermords gegen Israel wird vom Internationalen Gerichtshof (IGH) nicht abgewiesen. Das entschieden die Richter in Den Haag am Freitag. Der Gerichtshof erkenne das Recht der Palästinenser an, vor einem Völkermord geschützt zu werden. Insofern sei die Klage Südafrikas gegen Israel plausibel. Der IGH äußerte sich zudem tief besorgt über den anhaltenden Verlust von Menschenleben im Gazastreifen. Daher forderten die Richterinnen und Richter von Israel Sofortmaßnahmen, um die Menschen im Gaza-Streifen vor Genozid zu schützen und humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Allerdings ordnet das Gericht kein Ende des Militäreinsatzes Israels an.
Ein abschließendes Urteil des IGH darüber, ob Israel im Gazastreifen tatsächlich einen "Völkermord" an den Palästinensern begeht oder nicht, wird in Den Haag vorerst nicht gefällt. Diese Entscheidung in der Hauptsache könnte noch Jahre dauern.
Südafrika hatte Ende Dezember eine Klage gegen Israel wegen des Vorwurfs des Völkermords an den Palästinensern im Gazastreifen eingereicht und einen sofortigen Stopp der israelischen Angriffe auf den schmalen Küstenstreifen gefordert. Der IGH entscheidet als Gericht der Vereinten Nationen (UN) über Streitigkeiten zwischen Staaten. Seine Urteile haben vor allem symbolischen Charakter, da sie nur schwer zu vollstrecken sind. So hatte der IGH etwa auch Russland aufgefordert, seinen Angriffskrieg in der Ukraine zu beenden.
Baerbock fordert mehr Rücksicht auf Zivilisten in Gaza
Nun wächst der internationale Druck auf Israel, bei dem Militäreinsatz gegen die islamistische Hamas mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) forderte Israel eindringlich zur Zurückhaltung auf, Frankreich verurteilte den Beschuss einer UN-Flüchtlingsunterkunft im Gazastreifen. Derweil meldeten Israel und die Hamas am Freitag Kämpfe in der im Süden des Gazastreifens gelegenen Stadt Chan Junis.
Bundesaußenministerin Baerbock erklärte, "auch beim Recht auf Selbstverteidigung gibt es Regeln und auch beim Kampf gegen Terroristen gilt das humanitäre Völkerrecht". Diese Regeln müsse Israel "auch in einem schwierigen Umfeld" einhalten, "in dem die Hamas alle Regeln bricht und Menschen als Schutzschilde missbraucht".
"Israel muss dringend mehr humanitäre Hilfe nach Gaza lassen und seine Operationsführung anpassen", forderte Baerbock. "Viele hunderttausende Menschen haben auf israelische Anweisung im Süden Gazas Schutz gesucht", argumentierte die Außenministerin. "Sie können sich nicht einfach in Luft auflösen."
Sie wiederholte ihre Forderung nach einer "humanitären Feuerpause – auch damit endlich alle Geiseln freigelassen werden". Baerbock äußerte sich zudem "äußerst besorgt über die verzweifelte Lage der Menschen in Chan Junis".
Israel weist Vorwürfe des Völkermords zurück
Frankreich forderte Israel auf, sich an das "humanitäre Völkerrecht" zu halten. Das Außenministerium in Paris "verurteilte" den Beschuss einer UN-Flüchtlingsunterkunft in Chan Junis, bei dem nach UN-Angaben am Mittwoch 13 Menschen getötet worden waren. Nach Angaben des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) wurde das Gebäude von zwei Panzerraketen getroffen.
Bei der Anhörung im Den Haager Friedenspalast vor etwa zwei Wochen hatte Israels Vertreter die Vorwürfe entschieden zurückgewiesen. "Israel ist im Krieg mit (der Islamistenorganisation) Hamas, aber nicht mit dem palästinensischen Volk", hatte der Rechtsberater des israelischen Außenministeriums, Tal Becker, gesagt. Israel wies auch die Forderung nach einem Ende des Militäreinsatzes zurück. Damit würde dem Land das Recht auf Selbstverteidigung genommen, hieß es zur Begründung. Auch die USA und die Bundesregierung halten die Klage für unbegründet.
Angespannte Lage in Chan Junis
Im Gazastreifen setzen soweit bekannt nur die israelischen Streitkräfte Panzer ein. Die israelische Armee erklärte, ihre Militäreinsätze in der Gegend zum fraglichen Zeitpunkt sorgfältig zu überprüfen. Geprüft werde dabei auch die Möglichkeit, dass der Beschuss durch die Hamas erfolgt sein könnte.
Chan Junis – die größte Stadt im Süden des Gazastreifens und Heimatort von Hamas-Anführer Jahja Sinwar, der als Drahtzieher des Großangriffs der Hamas auf Israel im Oktober gilt – ist derzeit das Hauptziel der israelischen Armee. Ihren Angaben zufolge halten sich dort viele hochrangige Hamas-Mitglieder versteckt.
Tausende Menschen sind aus Chan Junis geflohen, um in Rafah an der Grenze zu Ägypten Schutz zu suchen. Ein "Meer von Menschen" sei gezwungen, aus Chan Junis an die Grenze zu fliehen, sagte UNRWA-Chef Philippe Lazzarini. Er sprach von einer "endlosen Suche" der Menschen im Gazastreifen nach Sicherheit.
Die israelische Armee teilte mit, in Chan Junis seien mehrere militante Palästinenser im "Nahkampf" getötet und Waffen beschlagnahmt worden. Sie erklärte zudem, dass ein weiterer Soldat im Gazastreifen getötet worden sei. Damit stieg die Gesamtzahl der seit Beginn des Bodeneinsatzes Ende Oktober Getöteten auf 220.
Die Hamas sprach von heftigen Kämpfen im Zentrum und im Westen von Chan Junis. Im gesamten Gazastreifen seien innerhalb von 24 Stunden 183 Menschen getötet worden, erklärte die islamistische Palästinenserorganisation.
Vermittler bemühen sich um Feuerpause
Der Krieg im Gazastreifen war am 7. Oktober durch den beispiellosen Großangriff der Hamas auf Israel ausgelöst worden. Am 7. Oktober waren hunderte Kämpfer der von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuften Palästinenserorganisation vom Gazastreifen aus nach Israel eingedrungen und hatten Gräueltaten überwiegend an Zivilisten verübt. Israelischen Angaben zufolge wurden etwa 1140 Menschen getötet und rund 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
Als Reaktion auf den Angriff startete Israel einen massiven Militäreinsatz im Gazastreifen. Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden seit dem Beginn der Offensive mehr als 26.000 Menschen in dem Palästinensergebiet getötet.
Die Vermittler Katar, Ägypten und die USA versuchen derzeit, eine neue Feuerpause zu erreichen. US-Medienberichten zufolge wird der Chef des US-Geheimdienstes CIA, William Burns, nach Europa reisen, um mit Vertretern Israels, Ägyptens und Katars über eine Waffenruhe im Gazastreifen und die Freilassung der israelischen Geiseln zu verhandeln.
Ende November waren im Zuge einer einwöchigen humanitären Feuerpause 105 Geiseln und 240 in Israel inhaftierte Palästinenser freigekommen.
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