Islamisten gewinnen die Wahl Tunesien feiert "Wiedergeburt" - und fürchtet sie

  • von Manuela Pfohl
Die umstrittene Ennahda-Bewegung wurde Sieger bei den Wahlen in Tunesien. In Sidi Bouzid gab es deswegen gewaltsame Ausschreitungen - und die Furcht, auf den arabischen Frühling könnte ein islamistischer Winter folgen.

Hichem Ben Kahla ist einer von rund sieben Millionen wahlberechtigten Tunesiern und hat die Islamisten nicht gewählt. Er steht auch nicht unbedingt hinter der Agenda von Ennahda und ihrem Chefideologen Rashid Gannouchi. Dass die umstrittene Bewegung die ersten demokratischen Wahlen in Tunesien so haushoch gewonnen hat, bringt ihn trotzdem nicht aus der Ruhe. "Nun können sie ja zeigen, ob sie was können, oder ob es im Wahlkampf doch nur viele leere Worte waren", meint der 35-jährige Tunesier, der seit zwölf Jahren in Deutschland lebt, pragmatisch.

In der vergangenen Woche hat Ben Kahla seine Familie in Teboulba besucht. Drei Schwestern, zwei Brüder und die Eltern leben in der rund 120.000 Einwohner zählenden tunesischen Hafenstadt. Der halbe Ort war mit Ennahda-Erklärungen zuplakatiert. Und die Ben Kahlas hatten auch einige Male Besuch von den eifrigen Wahlwerbern der Bewegung. Als die hörten, dass Hichem in Deutschland lebt, wollten sie ihm gleich den Kontakt zu dem Kandidaten von En Nahda in Karlsruhe machen. Doch während im Ausland lebende Tunesier wählen durften, waren viele über 18-Jährige in ihrem Heimatland selbst von den Wahlen ausgeschlossen. Nach der noch geltenden alten Verfassung durften sämtliche Polizisten, Mitarbeiter von Ministerien und Angehörige des Militärs ebenso wenig an die Urnen treten, wie die jungen Männer, deren Pflichtwehrdienst noch nicht länger als ein Jahr zurückliegt. In Teboulba hat es deswegen einigen Ärger gegeben und den Vorwurf, dass die Wahlen nicht wirklich demokratisch seien.

Mit Steinen gegen die "Wiedergeburt"

Und dennoch, wie es scheint, haben sich die Mühen für Ennahda im Wahlkampf gelohnt. Die "Wiedergeburt", die unter dem im Januar gestürzten Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali als extremistisch galt und verboten war, erhält nach dem in der Nacht zum Freitag veröffentlichten amtlichen Endergebnis der Auszählung 90 der 217 Sitze. Ben Kahla wundert das nicht. Gannouchi wurde nach seiner Rückkehr aus dem Exil von vielen Tunesiern als Held gefeiert, der sich jahrelang gegen das Regime gestellt hatte. Ein Sympathievorschuss, der auch Ennahda kräftig unterstützte.

In Sidi Bouzid, wo der Arabische Frühling seinen Ausgang nahm, gab es allerdings massive Proteste - wie auch im 50 Kilometer entfernten Regueb. In Sidi Bouzid beteiligten sich mindestens 2000 junge Menschen an den zum Teil gewalttätigen Ausschreitungen. Sie marschierten zum dortigen Sitz der Ennahda, schlugen Türen und Fenster ein und warfen Steine auf Angehörige der Sicherheitskräfte.

"Tunesien kann man nicht mit der Türkei vergleichen"

Liberale Tunesier fürchten im Falle einer islamistischen Regierung einen für sie dramatischen Wandel des Landes - bis hin zu Kopftuchzwang und Alkoholverbot. Immerhin hat sich die Bewegung in der Vergangenheit streng konservativ präsentiert. Und ihr Chef Gannouchi, der erst im Januar aus seinem 20-jährigen Exil in London nach Tunesien zurückkehrte, hatte bislang stets mit seinen guten Verbindungen zur radikalen ägyptischen Muslimbruderschaft geworben. Doch nun setzt der 70-Jährige auf Demokratie. Konkrete Hinweise auf drohende Einschnitte der Bürger- und Freiheitsrechte gibt es nicht. Im Wahlkampf verkaufte sich die Ennahda-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP.

Hichem Ben Kahla hält das für Unsinn. Tunesien könne mit den Bedingungen der Türkei nicht verglichen werden. Die politischen und kulturellen Grundlagen, auf denen die AKP basiere, könnten nicht einfach auf die tunesischen Vorstellungen übertragen werden. Das selbe gelte für Gesellschaft. Das Land am Bosporus habe viele Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln. "Aber Tunesien muss von jetzt auf gleich den Sprung schaffen." Dass moderne gesellschaftspolitische Reformen dazu Voraussetzung sind, bestätigt sogar Ennahda.

Die Rechte Gottes und die Rechte der Frauen

Die für die arabische Welt äußerst ausgeprägten Frauenrechte sollen nicht angetastet werden. Rashid Gannouchi erklärte in der Nacht vor jubelnden Anhängern, seine Partei werde die Revolution fortsetzen mit dem Ziel eines Landes "in dem die Rechte Gottes, des Propheten, der Frauen, der Männer, der Religiösen und der Nicht-Religiösen gesichert sind". Das kann alles heißen und nichts. Denn Ennahda kann nicht allein regieren. Sie braucht Partner - und die könnten den Weg entscheidend mitprägen. Ein Sprecher sagte, man werde Kontakt zu allen anderen politischen Parteien suchen. Ziel sei eine Regierung der nationalen Einheit. Für den Posten des Regierungschefs brachte sich bereits der Generalsekretär der Ennahda, Hammadi Jébali, ins Spiel.

Zweitstärkste Partei wurde die Mitte-Links-Partei "Kongress für die Republik" (CPR) unter Führung des Medizinprofessors Moncef Marzouki mit 30 Sitzen. Auf Platz drei landete die sozialdemokratische Partei Ettakatol mit 21 Sitzen. Sie führt nach eigenen Angaben bereits Gespräche mit der Ennahda über die Bildung einer neuen Übergangsregierung. Parteichef Mustapha Ben Jaâfar gilt als möglicher neuer Übergangspräsident.

"Religion hat nichts mit Politik zu tun"

Hichem Ben Kahla, der in Deutschland Maschinenbau studiert und in Teboulba eine Im- und Exportfirma aufgebaut hat, findet es richtig, dass Tunesien sich an den Werten des Islam orientiert. Er plädiert für ein starkes Selbstbewusstsein der Muslime. Und doch: "Religion hat nichts mit Politik zu tun", findet er. Eine Ansicht, die in der im Vergleich zum Nachbarland Libyen, weltoffenen und modernen tunesischen Gesellschaft verbreitet ist. Ben Kahla glaubt deshalb auch, dass sich islamistische Tendenzen nicht durchsetzen werden. "Das lassen sich die Leute nicht gefallen, da gehen sie wieder auf die Straße."

Viel wichtiger sei jetzt, meint er, dass sich in der Gesellschaft selbst etwas ändert. Viele junge Leute seien zu bequem, zu unflexibel, um sich auf Veränderungen einzustellen. Und die Wirtschaft müsse endlich gestärkt werden, damit sich die sozialen Verhältnisse im Land verbessern. In Hichems Familie läuft es ganz gut. Die Schwestern sind verheiratet und müssen nicht arbeiten. Ein Bruder lebt in Frankreich und die beiden anderen haben einen Job. Doch gerade in den abgelegenen Landesteilen ist die Armut groß und die Arbeitslosigkeit liegt teilweise über 40 Prozent. Für Ben Kahla ist klar: "Die neue Regierung muss sich darum kümmern."

Tausende neue Jobs sollen dem "arabischen Frühling" helfen

En Nahda verspricht 590.000 neue Jobs in den kommenden vier Jahren. Und es gibt auch aus Libyen unerwartete Hilfe. Der Übergangsrat will ab 2012 bis zu 32.000 Tunesier rekrutieren, die mit ihrer Erfahrung beim Aufbau des libyschen Tourismus helfen sollen. Auch in Tunesien, auf der Ferieninsel Djerba, in der Hafenstadt Teboulba und den anderen Tourismusregionen hoffen die Unternehmen darauf, dass die Urlauber aus dem Westen bald wieder kommen. Der moralischen Unterstützung für Tunesien, das den "arabischen Frühling" begann, müsse nun auch die praktische Hilfe folgen, findet Hichem Ben Kahla. Und er meint damit auch die im Ausland lebenden Tunesier.

Mit DPA