Nur seine Zähne verrieten, wer er war. Sunil Tripathi studierte an der Brown Universität. Er verschwand Mitte März, sein lebloser Körper wurde am Dienstag aus den Gewässern in der Nähe von Rhode Island gezogen. Vermutlich starb Tripathi bereits vor mehreren Wochen. Seine Leiche konnte nur an Hand eines Zahnabgleichs identifiziert werden. Doch vergangenen Freitag war er noch lebendig - im Netz.
80000 Menschen hörten Polizeifunk
Es war am frühen Morgen des vergangenen Freitag, kurz nach drei Uhr*. Eine der mutmaßlichen Attentäter von Boston war zwei Stunden zuvor bei einer Schießerei gestorben. Ein zweiter sei auf der Flucht - irgendwo in Boston. Wer die Männer waren, wusste niemand. Bis die Aktivistengruppe Anonymous auf Twitter schrieb, Sunil Tripathi sein einer der zwei Verdächtigen. Anonymous berief sich auf den Polizeifunk. Mehr als 80000 Menschen hörten diesen am frühen Freitagmorgen mit.
Was die Netzgemeinde nicht wusste, die Polizisten sprachen über Dinge, die sie im Internet gelesen hatten. So schreibt "Slate.com", erste Spekulationen über eine Beteiligungen Tripathis an den Anschlägen wären zunächst auf Twitter und Reddit aufgetaucht. Identifiziert habe ihn dort eine frühere Mitschülerin. Sie lag falsch und sie war nicht die einzige.
Die Welt ist ein Dorf
Schließlich, um 8:30 Uhr veröffentlicht die Polizei die Namen der beiden mutmaßlichen Attentäters. Dschochar Zarnajew habe sich irgendwo in Watertown versteckt. Die Kleinstadt, 14 Kilometer westlich von Boston, ist hermetisch abgeriegelt. Bereits am frühen Morgen hatte die Polizei alle Einwohner gebeten, ihre Häuser nicht zu verlassen. Eingesperrt in ihren Häusern, in ihren Wohnungen dokumentieren sie, was auf der Straße passiert.
Der Medientheoretiker Marshall McLuhan schrieb bereits 1964, "elektrisch zusammengezogen ist die Welt nun mehr ein Dorf". Die Geschwindigkeit der Informationen lässt den Raum schrumpfen. Im Sekunden-Takt laufen auf Twitter neue Nachrichten ein. "View from my house … crazy", kommentiert Shawna England. Das angehängte Bild zeigt #https://twitter.com/shawna_england/status/325188104912785408;ihren Blick aus dem Fenster# in Watertown. Auf der Gartenlaube liegen zwei uniformierte Soldaten.
"Like a movie"
Das abgesperrte Gebiet hat einen Radius von 20 Häuserblocks. Auf diesem Feld bewegen sich Jäger - und so hoffen sie - der Gejagte. Es könnte das Feld eines Computerspiels sein. "It's like a movie", sagte Andrew Kitzenberg am späten Nachmittag im Gespräch mit "NBC". Noch am Morgen hatte er dem Nachrichtensender wacklige Bilder einer Schießerei zwischen den mutmaßlichen Attentätern und der Polizei zugeliefert. Es geschah vor seiner Wohnung.
Die "Breaking News"-Kanäle der Agenturen liefen heiß. Im Minuten-Takt veröffentlichten sie die neuesten Erkenntnisse. Es gab wohl keine Redaktion, die nicht einen Live-Ticker aufsetzte. Und der musste gefüllt werden. Nachrichten werden nicht mehr als ein Ganzes präsentiert. Die Autorität der 20-Uhr-Tagesschau oder der gedruckten Zeitung am Morgen schwindet. Stattdessen werden Nachrichten in ihre Einzelteile zerbröselt und Häppchen-weise nach und nach veröffentlicht. Am vergangenen Freitag schien es häufig nicht mehr wichtig, wer eine Information zu erst richtig hat. Wichtig war, wer sie zuerst hat.
Kampf um Klicks
Im Kampf um Klicks bleibt nur wenig Zeit, Luft zu holen oder die Rechtschreibung zu prüfen. "Associated Press" ("AP") begann eine Meldung mit dem Wort "RBEAKING". Dabei war es nicht nur die Orthografie, die vernachlässigt wurde. Viele Quellen wurden nicht oder nur unzureichend geprüft. Noch bevor der Täter bekannt war, meldete "AP", es sei ein Tschetschene. Innerhalb weniger Minuten wurde "Tschetschenien" einer der meistgesuchten Begriffe auf Twitter. Der Regierungssprecher schaltete vorsorglich sein Handy ab.
Dabei feuerten auch Twitter-Nutzer fleißig Nachrichten ab, die weder in Watertown wohnten noch für eine Nachrichtenagentur arbeiteten. Sie übertrugen die Menschenjagd der Polizei ins Netz. Sobald die Namen der mutmaßlichen Verdächtigen bekannt waren, stürzten sie los. Sie fanden Jahrbuch-Fotos, Profile in sozialen Netzwerken, ein YouTube-Konto und eine Amazon-Wunschliste. Unterdessen zerrten Medien Verwandte der Verdächtigen vor die Kamera.
Die Hysterie hätte zu jedem Zeitpunkt in Lynchjustiz kippen können. Twitter wird nicht moderiert, jede Nachricht findet ihren Weg auf die Plattform. Problemlos ließe sich dazu aufrufen, selber auf die Straße zu gehen und den mutmaßlichen Attentäter zu finden. Dass es nicht dazu kam, ist auch Verdienst der der Bürger von Watertown und der Bostoner Polizei. Als im Netz immer wieder Karten auftauchten, die zeigten, wo sich der Verdächtige befinden könnte, bat sie keine weiteren Standorte zu veröffentlichen.
Lob bekamen auch die lokalen Fernsehstationen. Sie zeigten "eine Beharrlichkeit, eine Furchtlosigkeit und ein großes Wissen über die Region", schrieb der "Boston Globe". Dabei griffen Sender wie "NBC", "ABC" oder "WBZ" auf alte Formen zurück. Die erste Schilderung der Verhaftung von Dschochar Zarnajew bekamen die Amerikaner auf "ABC". George Pizzuto erzählte Moderatorin Diane Sawyer, wie sein Nachbar den verletzten Zarnajew in seinem Garten fand. Nicht per Twitter, sondern ganz alte Schule im Telefoninterview.
* Alle im Text angegebenen Uhrzeiten sind die Ortszeiten in Boston