Seit Jahrzehnten ist New York fest in demokratischer Hand. Ein Votum für "die Blauen" ist für viele New Yorker so selbstverständlich wie der Anblick des Empire State Buildings. Kein republikanischer Präsidentschaftskandidat hat in dem Bundesstaat seit Ronald Reagans Sieg im Jahr 1984 gewonnen.
Doch spätestens seit Joe Bidens desaströsem TV-Duell hat sich auch in New York die Stimmung gewandelt. Auch oder gerade abseits des Glamours von Times Square und Wall Street begegnet man immer mehr Menschen, die mit großer Sorge auf die anstehende Wahl blicken.
In einem kleinen Coffeeshop in der South Bronx steht Maria, 56, hinter der Theke. Die gebürtige Puertoricanerin hat stets für die Demokraten gestimmt. Diesmal weiß sie nicht, ob sie überhaupt wählen geht. "Trump ist eine Katastrophe", sagt sie. "Aber Biden hat nach dem TV-Duell mein Vertrauen verloren." Harry, ein Grafikdesigner aus Williamsburg, wird noch deutlicher. "Für mich wäre Biden schlicht die Wahl des kleineren Übels", sagt der 29-Jährige, der sich als Wechselwähler zu erkennen gibt. "Aber es fühlt sich verdammt schlecht an, zu wissen, dass eine senile Person am Steuer sitzt."
Der Frust von New Yorkern wie Maria und Harry spiegelt sich in den Umfragen wieder.
2020 hatte Biden die Demokraten-Hochburg mit 23 Punkten deutlich gewonnen. Heute liegt er nur noch acht Punkt vor Donald Trump. Tendenz sinkend. Ein alarmierter Bezirkspräsident aus Manhattan bezeichnete New York diese Woche gar als "Battleground State". In den vergangenen Tagen haben sich gleich mehrere New Yorker Demokraten dem wachsenden Kritikerchor angeschlossen, der Biden zum Rückzug drängen will.
New York: von Demokraten-Hochburg zum "Battleground State"?
Wie unter einem Brennglas zeigt sich in New York die panische Stimmung, die Demokraten im ganzen Land erfasst hat – das betrifft vor allem die Sorgen, die wichtigen Wechselwähler zu verlieren. Viele der unabhängigen Wähler stehen bei Themen wie Inflation, Einwanderung und Kriminalität eher auf Seiten der Republikaner. Eine aktuelle Umfrage des Siena College zeigt, dass nur knapp ein Drittel der unabhängigen Wähler, Bidens erneute Kandidatur unterstützt. Eine deutliche Mehrheit von 71 Prozent gab an, unzufrieden mit seiner Zeit im Oval Office zu sein.
Willi, ein Bauunternehmer aus Queens, ist einer dieser Unzufriedenen. "Wir sind das mächtigste Land der Welt und unsere Präsidentschaftskandidaten sind zwei Männer, von denen der eine ein Verbrecher ist, und der andere kaum sprechen kann", sagt der 53-Jährige, der bislang für die Demokraten gestimmt hat. Der Groll ist ihm anzumerken. Viele in seinem Umfeld seien frustriert über die hohen Steuern unter der Biden-Regierung. "Ich sage es nicht gern, aber unter Trump hatten wir alle mehr Geld in der Tasche."
Auch Albert spielt aus diesem Grund mit dem Gedanken, erstmals für die Republikaner zu stimmen. "Trump ist kein netter Mensch", sagt der 40-Jährige, der in einer Schule in Harlem arbeitet. "Aber was Wirtschaft und die Grenze angeht, hat er einen viel besseren Job gemacht als Biden."
"Würde vor Joe Biden davonlaufen"
Während sich New Yorks Gouverneurin Kathy Hochul demonstrativ an Bidens Seite stellt, bröckelt hinter verschlossenen Türen die Unterstützung für den Präsidenten. In einer Telefonkonferenz auf dem Capitol Hill sprachen sich die New Yorker Abgeordneten Jerry Nadler und Joe Morelle für einen Wechsel an der Spitze aus. Andere wie Lieutenant Gouverneur Antonio Delgado und der Abgeordnete Pat Ryan haben ihre Kritik öffentlich gemacht. "Zum Wohle unseres Landes bitte ich Joe Biden, zur Seite zu treten", schrieb Ryan auf X. "Um sein Versprechen einzulösen, eine Brücke zu einer neuen Generation zu sein."
Das ist es auch, was Grace umtreibt. Die 56-Jährige aus Brooklyn hofft, dass die Demokraten einen Kandidatenwechsel in Betracht ziehen. Gleichwohl wisse sie nicht, ob Kamala Harris wirklich die Beste sei. "Klar, ich würde zu gerne eine Frau als Präsidentin sehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie dem Job gewachsen ist", sagt Grace. "Andererseits, wenn es auf Biden oder Harris hinausläuft, würde ich sie wählen."
Unter New Yorker Demokraten ist die Sorge groß, dass ein schwacher Präsidentschaftskandidat Biden die Kandidaten in den umkämpften Bezirken im Hudson Valley und auf Long Island in Bedrängnis bringen könnte. Einige raten den demokratischen Abgeordneten ihrer Partei sogar dazu, Biden im Wahlkampf besser nicht zu erwähnen. "Wenn ich als Demokratin in einigen dieser Vororte antreten würde, würde ich vor Joe Biden davonlaufen", sagte Laura Curran, ehemalige Leiterin des Bezirks Nassau County, "Politico".
In den vergangenen Wochen haben New Yorker Abgeordnete, Gewerkschaftsführer und politische Berater deswegen vermehrt Kontakt mit Bidens Wahlkampfteam aufgenommen. Sie wollen die Kampagne überzeugen, mehr Ressourcen nach New York zu schicken, um die Kandidaten in den kritischen Swing-Distrikten zu stärken, die über die Kontrolle des US-Repräsentantenhauses entscheiden könnten.
Demokraten in Panik über Biden als Kandidat
Doch in der Wahlkampfzentrale des Präsidenten will man die Warnsignale aus New York nicht hören. Seit Bidens verpatztem TV-Duell vor drei Wochen ist sein Team Tag und Nacht dabei, die Feuer zu löschen – die sich inzwischen vom Capitol Hill bis nach Hollywood ausgebreitet haben (lesen Sie hier mehr dazu). Am Freitag berichtete CBS News, mehrere Dutzend Demokraten planten eine öffentliche Abkehr von Biden innerhalb der kommenden 48 Stunden.
So kommt, dass selbst ein demokratischer Staat wie New York nun für die Partei unsicher wird. Politstrategen sind sich nicht mehr sicher, dass allein die Ablehnung Trumps New York hier Biden einen Triumpf geschert. "Er muss die New Yorker daran erinnern, warum sie für ihn stimmen sollten", forderte Jasmine Gripper, Leiterin der linksgerichteten "Working Families Partei" in "Politico". "Wir haben es mit Wählern zu tun, die von beiden Parteien frustriert sind, und wir wissen, dass das zu einer niedrigen Wahlbeteiligung führt."
Auch Maria, die Barista aus der South Bronx, hat das Gefühl, dass die Biden-Regierung die Mittelschicht vergessen hat. "Die Mieten sind gestiegen, das Pendeln in die Stadt ist teurer geworden. Aber unsere Gehälter sind gleich geblieben", zählt sie auf. Ihre Söhne, 22 und 25, würde noch zuhause leben, weil sie es sich nicht leisten könnten, auszuziehen. "Wir alle kommen hierher mit dem amerikanischen Traum", sagt Maria. "Aber der Traum ist unerreichbar geworden."