Eine grölende Menge, Anti-Corona-Schilder und riesige Trucks, die die Straßen blockieren: Die chaotischen Szenen sorgen rund um den Globus für Erstaunen, was vor allem an dem Land liegt, indem sie sich abspielen. Ausgerechnet Kanada – bis dato bekannt für Toleranz, liberale Politik und seine Gastfreundlichkeit – sorgt seit drei Wochen für Schlagzeilen, wie "Die 'Belagerung von Ottawa' sollte die ganze Welt beunruhigen" und "Trucker und Corona-Demonstranten (...) versuchen, Obdachlosen in Ottawa das Essen wegzunehmen".
Dass außergewöhnliche Umstände außergewöhnliche Maßnahmen erfordern, dachte sich wohl auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau, als er am Montag den nationalen Notstand ausrief. Die Maßnahme sei "zeitlich begrenzt" und werde "geografisch gezielt" eingesetzt, betonte der Premier. Das Gesetz gibt den Behörden vorübergehend umfangreiche Möglichkeiten, um Demonstranten zu verhaften, ihre Lastwagen zu beschlagnahmen und die Finanzierung der Proteste zu unterbinden. Es ist erst das zweite Mal in der Geschichte des Landes, dass ein Premier in Friedenszeiten von solchen Befugnissen Gebrauch gemacht hat. Zuletzt war das Notstandsgesetz 1970 von Trudeaus Vater höchstpersönlich angewandt worden.
"Dies ist kein friedlicher Protest", rechtfertigte Trudeau Junior seinen Entschluss vor Journalisten. "Wir können und werden nicht zulassen, dass illegale und gefährliche Aktivitäten fortgesetzt werden." In Richtung Demonstranten fügte der Premier hinzu: "Die Zeit, nach Hause zu gehen, ist jetzt."
Kanada in Alarmbereitschaft: Wie konnte es dazu kommen?
Begonnen hatten die sogenannten "Freiheits-Konvois" der Trucker als Reaktion auf die Mitte Januar eingeführte Impfpflicht bei Grenzübertritten. Ungeimpfte kanadische Lkw-Fahrer müssen sich demnach bei der Rückkehr aus den USA für zwei Wochen isolieren, US-Fahrer ohne Impfung dürfen gar nicht mehr ins Land.
Seit die Trucker ihren Protest nach Ottawa gebracht haben, kommt die Hauptstadt nicht mehr zur Ruhe. Inzwischen richten sich die Demonstrationen grundsätzlich gegen die Corona-Regeln und die Regierung von Premierminister Trudeau. "F*** Trudeau" und "Medien maskieren die Wahrheit" ist auf Schildern, T-Shirts und Flaggen zu lesen – für kanadische Verhältnisse erstaunlich provokative Slogans. Manche Demonstranten fordern, der Premier sollte nicht nur abgesetzt, sondern für seine Corona-Politik ins Gefängnis gehen.
Gleichzeitig blockieren immer noch Lkw-Konvois mehrere Grenzübergänge zu den USA. Am Wochenende hatten die Behörden bereits die wichtige Ambassador-Grenzbrücke geräumt, die die kanadische Provinz Ontario mit der US-Metropole Detroit verbindet. Die wegen der Blockade zwischenzeitlich zum Erliegen gekommene Produktion mehrerer Autobauer wurde wieder aufgenommen.
Doch das Ausmaß der Wut und Gewaltbereitschaft ist neu. Am Montag entdeckte die Polizei an einem blockierten Grenzübergang zwischen Coutts im Bundesstaat Alberta und dem US-Bundesstaat Montana in mehreren Fahrzeugen Gewehre und Handfeuerwaffen sowie "große Mengen Munition". Elf Verdächtige wurden festgenommen. "Die Gruppe soll bereit gewesen sein, Gewalt gegen die Polizei anzuwenden, falls Versuche unternommen würden, die Blockade zu stören", erklärten die Beamten.
"Es fühlt sich an, wie ein nationaler Nervenzusammenbruch"
Das Chaos der letzten Wochen wirft die Frage auf, ob Kanada derzeit einen neuen Rechtsruck erlebt oder ob es sich lediglich um ein pandemiebedingtes "Dampf ablassen" handelt. "Es fühlt sich an, wie ein nationaler Nervenzusammenbruch", schreibt Susan Delacourt, eine erfahrene Politkolumnistin aus Ottawa.
Seit Beginn der Corona-Pandemie haben sich die Kanadierinnen und Kanadier zum größten Teil pflichtbewusst an die erlassenen Schutzmaßnahmen gehalten und auf die führenden Gesundheitsexperten gehört. Zwar gab es hier und da vereinzelte Proteste gegen die Maskenpflicht, doch grundsätzlich wurden sowohl das Mundschutz-Tragen als auch die Impfung als Akt der Solidarität gesehen. Das spiegelt sich auch in der Impfquote wider: Mit mehr als 83 Prozent vollständig geimpften Menschen über fünf Jahren kann Kanada eine der höchsten Quoten weltweit vorweisen.
Und dennoch beharren die Menschen in den Straßen von Ottawa und die Trucker an den Grenzübergängen auf nichts so sehr, wie die Rückgabe ihrer "Freiheit". In Ton und Farbe erinnern die Proteste dabei immer mehr an Trump-Rallys aus dem Nachbarland. Nicht nur, dass der Ex-US-Präsident selbst den "tapferen Widerstand" der Trucker gelobt hat, hinzu kommt auch, dass sich längst MAGA-Caps ("Make America Great Again") und Südstaaten-Flaggen unter die Demonstranten gemischt haben. Doch es bleibt nicht nur beim moralischen Support: Von rechten Aktivisten und US-Republikanern fließt auch Geld an die Trucker, die sich zum Großteil über Crowdfunding-Plattformen finanzieren.
Die Proteste halten dem Land mit der Ahornblatt-Flagge den Spiegel vor. Auch wenn er noch längst nicht so verbreitet ist, wie beim amerikanischen Nachbarn, ist Populismus auch in Kanada kein Fremdwort mehr. "Wir haben unsere Nettigkeit mythologisiert", erläutert Janice Stein, Professorin für Politikwissenschaften an der Universität von Toronto, in der "New York Times". "Wir sind nicht polarisiert wie Frankreich und Großbritannien, sondern das einzige große demokratische Land mit einem politischen Zentrum und das liegt daran, dass wir so nett und so fürsorglich zueinander sind." Mit Blick auf die Trucker-Proteste fügt die Politikwissenschaftlerin hinzu: "Das ist ein Moment, der Mythen zerstört."
Nachahmer-Proteste von Frankreich bis Neuseeland
Früher oder später werden wohl auch die letzten Lastwagen Ottawa verlassen. Doch viele machen sich Sorgen, dass die vom Premierminister als "laute Minderheit" abgetane Bewegung weiter wachsen wird. Schon jetzt haben die Trucker-Proteste weltweit Nachahmer gefunden, unter anderem in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Israel und sogar in Neuseeland.
Inspiriert von den "Freiheits-Konvois" machten sich in Frankreich vergangene Woche tausende Impfpass-Gegner mit Autos, Wohnmobilen und Lieferwagen auf den Weg in Richtung Paris. Trotz eines Verbots gelang es Demonstranten mit mehr als hundert Fahrzeugen über die Champs-Elysées zu fahren. Der Protest wurde schließlich von der Polizei unter Einsatz von Tränengas aufgelöst.
Auch in Neuseeland sorgen Impfpflicht-Gegnern nach dem Vorbild kanadische Trucker für Unruhe. Mehrere Tage lang harrten über tausend Menschen in einem Protestcamp vor dem Parlamentsgebäude in Wellington aus. Nachdem die Polizei erfolglos versucht hatte, das Camp aufzulösen und war die Stadt mit Sprinkleranlagen und lauter Musik gegen die Demonstranten vorgegangen.
"Lasst uns in dieser Zeit der Not aufeinander aufpassen, Kanada", twitterte Premier Trudeau im März 2020, als er sich als erster G7-Staatschef selbst isolieren musste. "Denn das ist, wer wir wirklich sind." Fest steht, dass sich sein Land zwei Jahre später sehr weit vom "aufeinander aufpassen" entfernt hat.
Quellen: "New York Times", "CNN", "Guardian", Reuters, mit AFP-Material