Es ist das schlimmste Szenario. Doch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko will auch darauf vorbereitet sein. Auf den Zusammenbruch der Infrastruktur in seiner Stadt, auf den vollständigen Ausfall der Stromversorgung, der Wärmeversorgung, der Wasserversorgung.
Der russische Machthaber Wladimir Putin und seine Militärs haben in den vergangenen Wochen bewiesen, dass ihnen das Überleben der ukrainischen Bevölkerung, aber auch das humanitäre Völkerrecht egal sind. Angriffe auf die zivile Energieversorgung sind danach eigentlich ein Tabu – und dennoch gibt es wieder und wieder Angriffe auf Kraftwerke und Leitungen. Mindestens ein Drittel der ukrainischen Energieinfrastruktur sind inzwischen zerstört. Das Ziel ist offenbar die Zermürbung der Ukrainerinnen und Ukrainer, der kalte Winter steht vor der Tür. "Unsere Feinde tun alles dafür, damit diese Stadt ohne Heizung, ohne Strom, ohne Wasserversorgung dasteht – allgemein: dass wir alle sterben", klagt Vitali Klitschko an.
Bevölkerung von Kiew soll Vorräte anlegen
Rund drei Millionen Menschen lebten vor Kriegsbeginn in der ukrainischen Metropole am Ufer des Dnjepr. Seither sind rund 350.000 Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen des angegriffenen Landes hinzugekommen. Wie viele die Stadt verlassen haben, aufs Land oder in andere Staaten geflüchtet sind, weiß so genau niemand. Klitschko geht davon aus, dass es immer noch rund drei Millionen sind, die sich in Kiew aufhalten – und der frühere Box-Weltmeister weiß, dass seine Stadtverwaltung nicht alleine für ihr Überleben sorgen kann. Am Samstagabend rief er die Bevölkerung im Fernsehen auf, Vorräte anzulegen oder gleich zu darüber nachzudenken, die Stadt vorerst zu verlassen. Vielleicht irgendwo auf dem Land unterzukommen.
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Denn die Versorgung der Hauptstadt ist bereits jetzt schon fragil, die russischen Angriffe auf Energieanlagen zeigen Wirkung. Die Stadt versucht, das Netz durch gestaffelte Stromabschaltungen zu stabilisieren. Ganze Stadtteile liegen dadurch stundenweise im Dunkeln – die Praxis soll, sie muss fortgesetzt werden.
Folgerichtig also, dass sich Klitschko und seine Männer und Frauen der Stadtverwaltung auf den Worst Case einstellen: einen Blackout. "Das System des Zivilschutzes muss auf verschiedene Szenarien vorbereitet sein", sagt Roman Tkatschuk, der für die Sicherheit der Stadt verantwortlich ist.
Evakuierung nicht offiziell geplant
Vorsorglich wurden rund 1000 sogenannte Heizbunker in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden Kiews hergerichtet und mit Trinkwasserreserven ausgestattet. Sie sollen gleichsam Schutz vor den russischen Bomben wie vor der ukrainischen Kälte bieten. Temperaturen von minus zehn Grad sind im Winter Kiews keine Seltenheit.
Doch die Planungen der Stadtverwaltung gehen noch deutlich weiter. "Wir wissen, dass wir unser gesamtes Stromversorgungssystem verlieren könnten, wenn Russland die Angriffe fortsetzt", zitiert die "New York Times" vom Samstag Sicherheitsdirektor Tkatschuk. "Deshalb ergreifen Regierung und Stadtverwaltung derzeit alle möglichen Maßnahmen, um unser Stromversorgungssystem zu schützen."
Aber reicht das? Und was, wenn nicht? Die "New York Times" schreibt auch, dass Klitschko, Tkatschuk und ihre Kolleginnen und Kollegen über das Undenkbare nachdenken und die Evakuierung der gesamten Hauptstadt planen. Rund drei Millionen Menschen müssten dann Kiew verlassen. Eine Evakuierungsaktion dieser Größenordnung dürfte es im Nachkriegs-Europa nicht gegeben haben, sie wäre eine logistische Operation gigantischen Ausmaßes. Ob und wie sie gelingen würde? Ungewiss.
"Putin braucht uns Ukrainer nicht"
Roman Tkatschuk will davon nichts wissen. Dass sich die Stadtverwaltung auf verschiedene Szenarien einstelle, "heißt nicht, dass wir eine Evakuierung vorbereiten", teilte er am Sonntag mit. Doch wenn der Strom in Kiew großflächig und über einen längeren Zeitraum ausfallen würde, gäbe es noch andere, gravierendere Probleme außer fehlendes Licht. "Ohne Strom gibt es kein Wasser und kein Abwasser", sagt Tkatschuk. Wenn das der Fall wäre, dürfte sich eine große, eine sehr große Zahl von Zivilisten auf den Weg machen und aus Kiew fliehen. Auch darauf muss sich die Stadtverwaltung einstellen.
An ein Ende der russischen Bombardements auf die Infrastruktur glaubt in der Kiewer Stadtverwaltung niemand, warum auch? "Putin braucht uns Ukrainer nicht. Er braucht das Gebiet, braucht eine Ukraine ohne uns", sagt Bürgermeister Klitschko. So ruhen die Hoffnungen auf dem staatlichen Stromversorger Ukrenergo und den vielen, vielen Fachleuten, die im ganzen Land unter großen Schwierigkeiten versuchen, die Energieversorgung notdürftig wieder zu stabilisieren. Gelingt dies nicht, könnte die Saat Putins aufgehen – und das schlimmste Szenario eintreten. Kiew könnte einen Exodus erleben, ob geplant oder ungeplant.
Quellen: "New York Times" (kostenpflichtiger Inhalt), Nachrichtenagenturen DPA und AFP