Nach mehr als sechs Jahren in Geiselhaft hat die kolumbianische Politikerin Ingrid Betancourt ihre beiden Kinder in die Arme schließen können. Sie nahm ihre 22-jährige Tochter Mélanie und ihren 19-jährigen Sohn Lorenzo am Militärflughafen von Bogotá in Empfang, wo die beiden aus Paris kommend gelandet waren. "Sie sind so anders und gleichzeitig doch dieselben", sagte sie. Die in einen schwarzen Hosenanzug gekleidete Betancourt wurde von ihrem Mann und ihrer Mutter begleitet und brach in Tränen aus, als sie ihre Kinder umarmte. "Nirwana, Paradies - das muss dem ganz ähnlich sein, was ich jetzt fühle", sagte sie.
Als Betancourt 2002 von Rebellen der FARC verschleppt wurde, waren ihre Kinder 16 und 13 Jahre alt. Jetzt umarmte die 46-Jährige zwei junge Erwachsene, die sich intensiv für ihre Freiheit eingesetzt hatten. Die Kinder Betancourts aus erster Ehe waren mit dem französischen Außenminister Bernard Kouchner von Frankreich nach Kolumbien geflogen.
Mit an Bord waren auch Betancourts erster Mann und Vater der Kinder, Fabrice Delloye, und ihre Schwester Astrid. Zuvor hatte die 46-Jährige, die auch einen französischen Pass besitzt, angekündigt, dass sie noch an diesem Donnerstag nach Paris fliegen wolle, um Staatspräsident Nicolas Sarkozy und dem französischen Volk für die jahrelangen Bemühungen um ihre Freilassung zu danken.
Sie ist sehr klar und in einer schönen Stimmung
Ihre erste Nacht in Freiheit verbrachte die frühere kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Betancourt mit stundenlangen Gesprächen mit ihrem Mann Juan Carlos Lecompte. "Sie ist sehr klar und in einer sehr schönen Stimmung. Wir konnten einfach nicht schlafen", sagte Lecompte. "Sie bat mich um eine Uhr, die ich seit ihrer Entführung (2002) aufbewahrt hatte. Und um Apfelsinen zum Frühstück", fügte er hinzu. Die beiden besitzen in Bogotà eine große Wohnung mit einem malerischen Blick über die Millionenmetropole.
Betancourt war am Mittwoch von einer Spezialeinheit der kolumbianischen Armee in einem ausgeklügelten Sondereinsatz befreit worden. Bei der Befreiungsaktion fiel kein einziger Schuss. Die Guerilleros der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) wurden nach Angaben der Regierung von Agenten des Militärgeheimdienstes getäuscht, die eingeschleust worden waren. FARC-Kämpfer führten die Geiseln zu einem vermeintlichen Flug zu ihrem Kommandeur Alfonso Cano. Am Abflugsort aber warteten zwei getarnte Hubschrauber der kolumbianischen Streitkräfte, wie Verteidigungsminister Juan Manuel Santos mitteilte.
Für den Notfall waren in der Region 39 weitere Hubschrauber in Alarmbereitschaft, die das Camp umzingelt und die Geiseln befreit hätten, wie Santos erklärte. Dieser Einsatz werde für seine Kühnheit und seine Effektivität in die Geschichte eingehen. Die Befreiung ist die größte Niederlage in der 44-jährigen Geschichte der staatsfeindlichen Guerillatruppe. Betancourt sagte, sie und die anderen Geiseln hätten nichts geahnt, bis die getarnten Militärhubschrauber gestartet seien. Dann habe sich der Chef der Kommandoaktion zu erkennen gegeben und gesagt: "Sie sind frei." Alle seien außer sich vor Freude gewesen. "Der Hubschrauber fiel fast vom Himmel, weil wir auf- und abgesprungen sind, schreiend, weinend, einander umarmend", sagte Betancourt.
Als sie nach der von ihr selbst als "Wunder" bezeichneten spektakulären Befreiungsaktion durch das Militär in Bogotà aus dem Flugzeug stieg, wirkte sie überraschend ruhig und fast etwas verklärt.
Manchmal wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt
Den abrupten Szenenwechsel von der scheinbar endlosen Geiselhaft im Dschungel zurück in die Zivilisation verkraftete sie erstaunlich gut. Nur manchmal wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt, als sie etwa den Tod ihres Vaters während ihres Geiselmartyriums erwähnte. In zu groß wirkender Militärkleidung sprach sie ansonsten aber schon wieder so versiert und druckreif, als sei sie wieder in die politische Arena zurückgekehrt.
Sie rief die FARC auf, jetzt auch die noch verbliebenen 700 Geiseln freizulassen. Sie vergebe ihren Peinigern. Sie wolle künftig einen Beitrag zur Versöhnung in Kolumbien leisten. "Ich hoffe immer noch, Kolumbien als Präsident zu dienen." Zunächst wolle sie aber mit ihrer Familie sprechen. Unter den befreiten Geiseln sind auch drei US-Bürger. Die Mitarbeiter des Rüstungskonzerns Northrop Grumman kehrten noch in der Nacht zum Donnerstag in ihre Heimat zurück. Vom texanischen Luftwaffenstützpunkt Lackland aus wurden sie in ein Militärkrankenhaus gebracht.
Weltweit wurde die Befreiung mit Erleichterung und Freude aufgenommen. US-Präsident George W. Bush, Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel beglückwünschten den kolumbianischen Staatspräsidenten Alvaro Uribe zu dem Erfolg. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso dankte allen, die sich um die Befreiung der Geiseln bemüht hätten. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, sprach von einem Riesenerfolg für Uribe. Ein Sprecher des Vatikans äußerte die Hoffnung, dass auch die anderen Geiseln bald freikommen und nun ein Friedensprozess in Kolumbien beginnen könne. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief die Rebellen dazu auf, unverzüglich alle verbliebenen Geiseln freizulassen.