Sie waren auf die Straße gegangen der Gefahr zum Trotz. Seit Tagen hatte das Gerücht die Runde gemacht in Islamabad: Selbstmordattentäter seien in der pakistanischen Hauptstadt, und warteten nur auf den Befehl zuzuschlagen. Rache sollten sie üben. Für den Sturm der Armee auf die Rote Moschee vor neun Tagen; für die toten Männer, Frauen und Kinder; und für den fanatischen Mullah Abdul Raschid Ghazi, den manche fromme Pakistaner zum Märtyrer verklären, seit er unter ungeklärten Umständen im Kugelhagel starb.
Die Bewohner von Islamabad wussten um die Gefahr, doch sie ließen sich davon nicht zurückhalten. Zu Hunderten hatten sie sich gestern Abend auf dem Ayub-Markt im Zentrum der Stadt versammelt. Sie waren gekommen, um einen Mann zu unterstützen, der es wagt, dem Militärregime von Präsident Pervez Musharraf die Stirn zu bieten: Iftikhar Chaudhry, den suspendierten Obersten Richter Pakistans.
Seit der Präsident den unbequemen Justizchef im März aus dem Amt gejagt hat, hat sich um Chaudhry eine landesweite Protestbewegung gegen Musharraf gebildet, die lautstark Respekt vor den Bürgerrechten und eine Rückkehr zur Demokratie einfordert. Lahore, Karachi, Peschawar: Wo immer Chaudhry auftritt, ist Volksfeststimmung.
Bombe explodiert in feiernder Menge
"Go, Musharraf, go!" "Onkel, warum ziehst du nicht die Uniform aus? Onkel, warum gehst du nicht in Rente und haust ab?" Seit Monaten kann jedes Kind in Pakistan diese Songs auswendig. Am Dienstagabend um kurz nach acht Uhr Ortszeit haben die Menschen auf dem Ayub-Markt von Islamabad sie wieder angestimmt. In eine halben Stunde soll Richter Chaudhry im Festzelt nebenan zu seinen Anhängern sprechen - ein letztes Mal: Am Donnerstag oder Freitag dieser Woche wird das Oberste Gericht über seinen Fall entscheiden. Und es sieht gut aus für Chaudhry und seine Sache, es sieht aus, als würde Musharraf klein beigeben. Denn Tags zuvor haben seine Anwälte erklärt, die meisten Anklagepunkte gegen den Richter würden fallengelassen. Chaudhrys Anhänger wähnen sich schon als Sieger.
Dann explodiert die Bombe. Inmitten der feiernden Menge. Es ist 20.30 Uhr. 13 Menschen sind sofort tot, über 40 verletzt, mindestens 20 von ihnen schwer. Drei Stunden sterben wenig später im Krankenhaus. Viele andere haben Arme oder Beine verloren. Richter Chaudhry entgeht dem Anschlag knapp: Sein Konvoi hat sich verspätet und ist zum Zeitpunkt der Explosion noch ein paar Blocks entfernt.
Auch Fauzia Habib ist später als geplant zum Ayub-Markt gekommen. Und hat zusehen müssen, wie die Sanitäter ihre Freundinnen vom Frauenverband der Oppositionspartei PPP aus dem Chaos aus zerrissenen Plakaten, verbogenen Stühlen, Blut und Leichenteilen bargen, das die Bombe hinterlassen hat. Später steht die Abgeordnete der Nationalversammlung auf dem Flur der Station 2 im Krankenhaus des "Pakistan Institute of Medical Science". Sechs ihrer Partei-Genossinnen sind tot, eine hat beide Beine verloren, von zwei anderen hat sie noch keine Nachricht.
Ohne Musharraf wäre es nie soweit gekommen
"Was ist das für ein Land, in dem Leute für die Demokratie auf die Straße gehen und dafür in die Luft gesprengt werden", sagt Habib mit Tränen in den Augen. "Warum schützt die Regierung ihre eigenen Bürger nicht? Unsere Parteichefin Benazir Bhutto hat Musharraf unterstützt, als er hart gegen die Fanatiker von der Roten Moschee vorging und jetzt zahlen wir den Preis dafür." Sardar Saleem, ehemaliger Senator der PPP, ist in Nachthemd und Sandalen ins Krankenhaus geeilt. Er hat noch eine andere Erklärung für den Anschlag. "Hier soll eine Atmosphäre von Angst und Unsicherheit geschaffen werden. Dann kann Musharraf den Notstand ausrufen und so die Wahlen verschieben. Das plant er doch schon lange." Dann fällt eine Frau mit blutverschmierter weißer Hose und wirrem Haar den beiden Abgeordneten in die Arme. "Sie sind tot, alle tot", ruft sie verzweifelt.
Auch am Morgen nach dem Anschlag sitzt der Schreck den Bewohnern von Islamabad noch in den Gliedern. In der Nacht hat die Polizei erklärt, ein Selbstmordattentäter habe das Blutbad angerichtet. Seitdem ist für viele klar: Es war die befürchtete Rache für den Sturm auf die Rote Moschee. "Noch ein Gemetzel in der Hauptstadt" titelt die Tageszeitung "Dawn" und kommentiert: "Nun ist der Moment der Wahrheit für Musharraf gekommen."
Doch viele Pakistaner haben die Hoffnung schon aufgegeben, dass das Regime des Generals den Terror eindämmen kann. "Musharraf spielt ein doppeltes Spiel: Im Westen verkauft er sich als großer Anti-Terrorkämpfer und zu Hause macht er mit den Islamisten gemeinsame Sache," sagt Senator Saleem. "Ohne ihn wäre es nie soweit gekommen." Fawzia Habib nickt: "Statt sich um die Sicherheit im Land zu kümmern, sind unsere Geheimdienste damit beschäftigt, die Büros von Richtern und Anwälten zu verwanzen. Doch der Westen unterstützt Musharraf und seine Leute immer noch. Wann werden sie in Amerika und Europa endlich kapieren, dass der Terror, solange er an der Macht ist, nie ein Ende nimmt?"