Seit Jahresanfang gibt es ein „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“. Was bedeutet das Wortungetüm konkret?
Das heißt, dass ich mich als Unternehmer um meine Lieferketten sorgen muss. Ich verkaufe ein Endprodukt, aber zu seiner Herstellung benötige ich diverse Vorprodukte und Dienstleistungen. Die kaufe ich hier und dort ein – daraus entsteht eine Kette an Lieferungen. Sie beginnt mit den Arbeitsbedingungen des Kakaobauern und setzt sich fort bis zur Tafel Schokolade im Supermarkt.
Worum genau müssen sich die Unternehmen künftig kümmern?
Dass entlang dieser Lieferwege nichts geschieht, was Menschenrechte verletzt – wie Hungerlöhne, Kinderarbeit, Korruption. Eigentlich steht das alles im ureigenen Interesse jeder Firma. Denn sie hat extreme Vorteile, wenn sie aufmerksam ist. Wir haben mittlerweile ausreichend empirische Beweise dafür, dass eine resiliente Lieferkette nur funktioniert, wenn ich auf Menschenrechte achte.

Was ist denn eine resiliente Lieferkette?
Eine, die funktioniert, indem sie weniger Risiken ausgesetzt ist. Sie ist widerstandsfähiger gegenüber allen möglichen Störungen wie Transportunterbrechungen wegen Überschwemmungen oder Hitzewellen. Oder wenn viele Mitarbeiter ausfallen, wie in China während der Pandemie, ganze Werke stillstehen oder Transportketten lahm liegen, weil niemanden mehr einen Lkw fahren kann.
Sehen sie schon jetzt spürbare Folgen des neuen Gesetzes?
Ganze Industrien und Branchen versuchen, sich auf die neue Gesetzeslage einzustellen. Für mich zeigt es die charmante Konsequenz dieses Gesetzes: Beschaffer – also Käufer im Unternehmen – und Lieferanten hinterfragen Schritt für Schritt die Lieferkette, und versuchen, Probleme gemeinsam zu lösen. Das wird für Unternehmen langfristig ein ausschlaggebender Wettbewerbsvorteil, besonders gegenüber amerikanischen oder asiatischen Unternehmen sein. Europa hat mit diesem Gesetz wieder die Chance, wirtschaftlich ganz nach vorne zu kommen, denn die Erfüllung der gesetzlichen Auflagen ist nichts anderes als eine lohnenswerte Investition in die Zukunft des eigenen Unternehmens
Was stimmt Sie so optimistisch? Bisher hat der internationale Wettbewerb ja ein Vergleichskriterium gehabt, und das ist der Preis.
Das muss man anders sehen. Nachhaltigkeit ist mehr als ein Wettbewerbsfaktor, sondern ein „Muss“. Die nachhaltige Transformation eines Unternehmens, die mit einer entsprechenden Digitalisierungsstrategie einhergehen muss, ist notwendig, sonst können wir elementare Ziele nicht erreichen. Die UN-Nachhaltigkeitsziele bis 2030 wurden bisher nur zu zwölf Prozent erreicht. Wenn ein Unternehmen sagt: Nachhaltigkeit ist mir schnuppe, ich ignoriere das Gesetz, wird es Strafzahlungen geben – die aber sind nicht das einzige Problem dieses Unternehmens. Wenn sich nichts ändert, drohen uns allen ganz andere Probleme: den Planeten, auf dem wir leben, zu ruinieren, macht auch wirtschaftlich gesehen keinen Sinn. Große Teile der Welt stehen aktuell vor der nächsten Hungerkatastrophe. Es gibt Regionen, in denen man nichts mehr anbauen und nicht mehr leben kann aufgrund des dort vorherrschenden Wassermangels. Wir schlittern in eine Katastrophe.
Warum sollte ein Schraubenhersteller in Deutschland Arbeitsbedingungen in Afrika als sein Problem betrachten?
Weil uns zum Beispiel eine Flüchtlingswelle ins Haus steht, die schlimmer ist als alles, was wir bisher erlebt haben. Und seine Schrauben sind ja aus Stahl– eine der übelsten Industrien mit Blick auf den CO2-Fußabdruck. Irgendwann können solche Unternehmen nichts mehr produzieren, wenn sie sich nicht nachhaltiger aufstellen. Dieser Veränderung kann sich über kurz oder lang niemand mehr entziehen. Was kann man denn überhaupt noch verkaufen, wenn der Kunde kein Geld mehr hat, siehe Energiekrise? Ein cleveres Unternehmen fragt sich heute schon, wo beim Lieferkettengesetz der eigene Mehrwert liegt.
Lieferkettengesetz – das Projekt
Der stern und das freie Autoren- und Fotografenkollektiv Zeitenspiegel Reportagen widmen sich in loser Folge einem der wichtigsten neuen deutschen Wirtschaftsgesetze – dem im Januar 2023 in Kraft getretenen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Was bedeuten die neuen Regeln für deutsche Unternehmen? Was für die Menschen im globalen Süden? Und was für Kunden und Konsumenten? Dieses Projekt wird vom European Journalism Centre finanziert und von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt – die Artikel entstehen ohne redaktionellen Einfluss der Stiftung.
Wie zeigt sich das?
Es geht um Zukunftsfähigkeit. Wir haben ja bei der Corona-Pandemie gesehen, was passiert, wenn ein Unternehmen die Risiken in seinen Lieferketten nicht erkennt. Hätten wir schon damals eine richtige Strategie gehabt, hätten wir nicht so panisch reagiert und quasi alle Lieferverträge gekündigt. Die Bundesregierung hat ja schon damals darauf hingewiesen, dass sich Unternehmen darum kümmern sollen – nur taten sie es nicht. Daher nun das Gesetz.
Das Gesetz gilt derzeit für Unternehmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern. Droht dadurch nicht, dass die ihre Verantwortung auf kleinere Lieferanten abwälzen?
Nein. Das Gesetz fordert, die Lieferanten zu schulen. Es lässt großen Unternehmen wenig Spielraum, ihre Verantwortung abzuladen und die kleinen Unternehmen am langen Arm verhungern zu lassen. Im Gegenteil: Es ist die Chance für echte Partnerschaft. Denn diese gründet sich auf Kompetenz. Das liegt auch im Interesse des Unternehmens, ich nenne es „Hilfe zur Selbsthilfe“. Dies bringt auch im strategischen Beschaffungsprozess große Erleichterungen mit sich, weil ich die Lieferanten erziehe, Probleme selber anzupacken und zu lösen.
Was passiert, wenn sich ein Unternehmen taub stellt? Muss es Strafe zahlen?
Von Unternehmen wird nichts verlangt, was finanziell oder personell nicht zu stemmen wäre. Wahrscheinlich wird es erste Mahnungen geben. Aber so weit ist der Prozess noch nicht, es geht ja gerade erst los. Klar, am Ende droht eine Strafzahlung, abhängig vom Umsatz. Aber das ist nicht der Punkt. Wer nicht auf seine Lieferketten schaut, wird nicht überleben. Der ist, einfach ausgedrückt, in wenigen Jahren weg vom Fenster. Ich begeistere keine jungen Leute mehr für mein Unternehmen, wenn ich nicht eine Vision von Nachhaltigkeit habe. Ich bekomme auch keine Investitionspartner mehr, wenn ich keine konkreten Nachhaltigkeitsziele verfolge. Meine Reputation leidet, das sind nur die wichtigsten Auswirkungen. Das Lieferkettengesetz bietet nur eine Hilfestellung, damit sich mein Unternehmen in die richtige Richtung entwickelt.
Also sind Menschenrechte ein wirtschaftlicher Mehrwert?
Führt man neue Technologien ein, ist das erstmal mit Investitionen verbunden. Aber nachhaltiger zu sein, spart sehr viel Geld. Laut dem Wirtschaftsforum kann ich etwa einen höheren Umsatz erzielen, spare im Transportbereich bis zu 16 Prozent. Und ich kaufe durchschnittlich zehn bis 25 Prozent billiger ein. Nachhaltigkeit ist eine Investition, die sich immer rechnet.
Sind denn bei deutschen Lieferketten viele Menschenrechtsverletzungen, viele Umweltverletzungen zu beklagen?
Ja, leider. Das größte Problem ist, dass die Schere zwischen dem Globen Süden und Norden immer weiter auseinandergeht. Mir fehlt bei Unternehmen der holistische Gedanke: höchstes Menschenrecht ist Recht auf gutes Leben. Das hat nicht nur mit fairen Löhnen zu tun – die werden zu sehr in den Vordergrund gestellt. Ich würde mir als Kakaobauer an der Elfenbeinküste ziemlich allein gelassen vorkommen, wenn mir zwar ein fairer Lohn gezahlt wird, aber ich meine Heimat verlassen muss, weil es kein Wasser mehr gibt. Der holistische Ansatz bringt Ökologisches und Soziales in ein Gleichgewicht, daran müssen sich Unternehmen ausrichten
Steht Deutschland mit diesen neuen Richtlinien international alleine da?
Nein, in Europa haben einige Länder schon vor längerer Zeit ähnliche Leitlinien entwickelt – wie etwa Frankreich, die Niederlande und Großbritannien.
Aber viele Unternehmen sind alles andere als glücklich mit diesem Gesetz.
Ich erlebe sowas oft bei meinen Vorträgen in der Wirtschaft. Erstmal wird groß gejammert: Das sei alles nicht machbar. Und wenn ich nachhake, stellen sie fest: Ach, da machen wir ja schon einiges. Fast jedes Unternehmen, mit dem ich im Austausch bin, erweist sich zunächst als „unfit“ für das Lieferkettengesetz, aber keines scheitert daran. Sie merken recht schnell, dass sie sich damit besser aufstellen und einen wirklichen Mehrwert für ihr Unternehmen generieren können