Machtkampf Raffiniertes Spiel auf Zeit

Die ukrainische Opposition muss fürchten, dass ihr die Felle davonschwimmen. Mehrere Ultimaten sind abgelaufen, doch zum großen Schlag hat die orangene Bewegung noch nicht ausgeholt. Derweil setzt die alte Macht auf den Faktor Zeit.

In der Ukraine ist die erste Woge der imposanten Massenproteste abgeebbt. Die Politik im Machtdreieck zwischen Oppositionsführer Viktor Juschtschenko, Regierungschef Viktor Janukowitsch und dem scheidenden Präsidenten Leonid Kutschma hat in diesen Tagen wieder die Initiative übernommen. Mehr oder minder einhellig wird nach Neuwahlen gerufen, doch noch ist völlig unklar, wer auf Grundlage eines lückenhaften Wahlgesetzes wann und wie gewählt werden soll.

Der Opposition läuft die Zeit davon

Es zeichnet sich ein komplizierter Prozess ab, der den alten Machtstrukturen Zeit gibt, den Zersetzungsprozess in den eigenen Reihen zu stoppen und sich neu aufzustellen. Der Opposition läuft die Zeit davon: Auf den Straßen schwinden die Kräfte, die Euphorie der ersten Tage ist verflogen.

Der wieder aus der Versenkung aufgetauchte Präsident Leonid Kutschma scheint eine komplette Neuwahl mit erster Runde, beliebig vielen Kandidaten und dreimonatigem Wahlkampf zu favorisieren. Das böte die Gelegenheit, den äußerst umstrittenen Regierungschef Janukowitsch durch einen moderaten Bewerber auszutauschen. Als Kandidat gilt Nationalbankchef Sergej Tigipko. Der ehemalige Wirtschaftsminister stieg zu Wochenbeginn als Wahlkampfleiter bei Janukowitsch aus und bekundete Interesse an einer Kandidatur.

Die Opposition dagegen will die Gunst der Stunde nutzen und fordert eine Wiederholung der zweiten Wahlrunde, der von Fälschungsvorwürfen überschatteten Stichwahl zwischen Juschtschenko und Janukowitsch. Als Termin wird der zweite oder dritte Sonntag im Dezember genannt. Bis dahin müssten allerdings die Wahlleitung sowie die Kommissionen in den Regionen paritätisch besetzt und die offenkundig manipulierten Wählerlisten in Ordnung gebracht werden. Das ist kein einfaches Unterfangen angesichts des Beharrungsvermögens der alten Macht.

Forderung mit Haken

Die Forderung der Opposition hat einen Haken. "Das Gesetz schließt eine auf die Stichwahl begrenzte Neuwahl aus", betont der Kiewer Politologe Wladimir Malenkowitsch. Die Opposition setzt auf die Oberste Rada. Das Parlament soll entsprechende Änderungen im Wahlgesetz verabschieden. "Es wäre falsch, mitten im Prozess die Spielregeln zu ändern", bemängelt Malenkowitsch.

Bedingung für eine Wiederholung der Wahl ist nach Ansicht von Juristen, dass das Oberste Gericht massive Fälschungen bei der Stichwahl vom 21. November bestätigt und die Ernennung eines Siegers untersagt. Das Oberste Gericht tagt seit Montag. Vieles spricht dafür, dass die Richter die ihnen zustehende Frist von zehn Tagen für eine Entscheidung voll ausschöpfen werden.

Eine Parlamentsmehrheit kommt nur mit den Kommunisten zustande. Die sind grundsätzlich zur Zusammenarbeit mit der Juschtschenko-Fraktion bereit. Im konkreten Fall setzen aber auch die Kommunisten auf eine komplette Wahlwiederholung, um ihren Parteichef Pjotr Simonenko wieder ins Rennen schicken zu können.

Großer Schlag blieb aus

Die Opposition muss fürchten, dass ihr die Felle davonschwimmen. Mehrere Ultimaten sind abgelaufen, doch zum großen Schlag wie einem Generalstreik hat die orangene Bewegung bislang nicht ausgeholt. Optimisten im Juschtschenko-Lager stufen die Massenproteste der vergangenen Tage dagegen lediglich als "Generalprobe" ein. Bei einer Wahlwiederholung nach Ablauf der 90-Tage-Frist sei man zu Frühlingsbeginn noch stärker, heißt es.

Als Etappensieg setzte die Opposition am Mittwoch im Parlament ein Misstrauensvotum gegen die Regierung von Janukowitsch durch und verlangte dessen Absetzung. Für die Resolution stimmten 228 der nominell 450 Abgeordneten. Janukowitsch erklärte das Votum für rechtswidrig und lehnte einen Rücktritt ab.

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Stefan Voß/DPA