Trotz vehementen Protests der US-Regierung hat die Internetplattform Wikileaks in der Nacht zu Samstag fast 400.000 Geheimdokumente zum Irak-Krieg veröffentlicht. Die Dokumente enthüllen, dass im Irak mindestens 15.000 Zivilisten mehr getötet wurden als bisher bekannt. Zusätzlich wurden Berichte über Folter und Erniedrigung veröffentlicht. Wikileaks zitierte Augenzeugen mit den Worten: "Die einzigen Grenzen, die es gab, waren die Grenzen der Vorstellungskraft." In der Mehrzahl der Fälle gehe es um Taten von Irakern gegen Iraker.
Die USA forderten Wikileaks auf, die Dokumente umgehend aus dem Netz zu nehmen. Der Schritt der Enthüllungsplattform gefährde Leben, schoss US-Außenministerin Hillary Clinton am Freitag gegen den jüngsten Coup des Internet-Projekts. Die nationale Sicherheit der USA und die ihrer Verbündeten seien bedroht. Ähnlich heftig die Antwort des US-Verteidigungsministeriums: "Indem solch sensiblen Dokumente zugänglich gemacht werden, setzt Wikileaks weiter das Leben unserer Soldaten, unserer Verbündeten, und von Irakern und Afghanen aufs Spiel, die für uns arbeiten".
Wikileaks hatte bereits im Juli 77.000 geheime US-Dokumente zur Lage in Afghanistan veröffentlicht und sich damit den Zorn der US-Regierung zugezogen. Auf der 2006 gegründeten Webplattform können anonym Dokumente veröffentlicht werden. Das Projekt möchte nach eigener Aussage all "denen zu Seite stehen, die unethisches Verhalten in ihren eigenen Regierungen und Unternehmen enthüllen wollen".
Wikileaks-Gründer Julian Assange widerspricht der Einschätzung der US-Regierung. Er glaubt vielmehr, Kriegsverbrechen auf der Spur zu sein. Die Dokumente offenbarten klare Beweise dafür, sagte Assange am Samstag in London. Sie seien zudem redaktionell so bearbeitet, dass niemand gefährdet werde.
Die Wikileaks-Website war zeitweise nicht zu erreichen. "Tut uns leid", hieß es auf der Website. Wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten sei der Zugang nicht möglich. "Wir werden so schnell wie möglich wieder online sein." In Twitter-Mitteilungen hieß es dazu, die Server seien wohl angesichts des Ansturms einfach überlastet. Man soll es einfach immer wieder versuchen.
"Drastischen Porträt" des Krieges
Die "New York Times", der "Spiegel", der britische "Guardian" und die französische "Le Monde" hatten die aus "einer Datenbank des Pentagon" stammenden Papiere aus der Zeit vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2009 im Vorhinein ausgewertet. Die Unterlagen – laut Wikileaks 391.832 - dokumentieren den blutigen Alltag des Kriegs und illustrieren die Hilflosigkeit der US-Truppen angesichts des zunehmenden Chaos im Irak.
Die "New York Times" sprach von einem "drastischen Porträt" des Krieges. Es mache aber klar, dass bei weitem die meisten Zivilisten durch die Hand anderer Iraker starben. Die Dokumente zeugten auch von vielen, bislang nicht bekannten Vorfällen, bei denen US-Soldaten Zivilisten töteten - an Kontrollposten, aus Hubschraubern, bei Einsätzen. Missverständnisse an Checkpoints endeten oft tödlich. Einer internen Aufstellung der Armee zufolge wurden zwischen der Invasion 2003 und Ende 2009 insgesamt etwa 109.000 Iraker getötet, 63 Prozent von ihnen Zivilisten.
Die Dokumente bieten laut "New York Times" aber nur wenig darüber, was in amerikanischen Gefängnissen geschehen sei. Jedoch enthielten sie unauslöschliche Details über Missbrauch, der auf das Konto der irakischen Streitkräfte und Polizei gehe.
Pentagon: Kaum Neues
Zuvor hatte das Pentagon erklärt, in den Dokumenten fände sich wahrscheinlich kaum Neues. "Da wird es wahrscheinlich keine großen Überraschungen geben", sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Major Chris Perrine, am Freitag. "Das sind alles Nachrichten von gestern." Über das meiste sei bereits "sehr, sehr ausführlich berichtet worden".
Auch nach Ansicht des irakischen Ministeriums für Menschenrechte enthalten die Dokumente "keine Überraschungen". "Wir haben bereits auf mehrere dieser erwähnten Fakten hingewiesen", sagte ein Sprecher er Nachrichtenagentur AFP am Samstag. "Dazu zählen auch die Vorfälle im Gefängnis von Abu Ghraib und weitere Vorfälle, in die die US-Streitkräfte verwickelt waren", sagte er in Anspielung auf das berüchtigte irakische Gefangenenlager. Zu den Enthüllungen von Wikileaks zum Verhalten der irakischen Sicherheitskräfte wollte sich der Sprecher hingegen nicht äußern.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) forderte die USA auf, die Übergriffe in irakischen Gefängnissen zu untersuchen. Washington müsse aufklären, "was US-Verantwortliche über Folter und Misshandlung von Gefangenen in irakischen Haftanstalten wussten", sagte die Generalsekretärin von AI in Deutschland, Monika Lüke, in Berlin. Ihre Organisation habe die jetzt veröffentlichten Dokumente noch nicht prüfen können, "auf den ersten Blick" bestätigten sie aber, dass die USA bei der Übergabe tausender Gefangener an die irakischen Behörden gegen internationales Recht verstoßen hätten. Die Dokumente lieferten "weitere Beweise dafür, dass den US-Behörden die über Jahre andauernden systematischen Menschenrechtsverletzungen" bekannt gewesen seien.