Nach dem Durchboxen der Rentenreform in Frankreich ohne finale Zustimmung des Parlaments ist das wohl wichtigste Vorhaben von Präsident Emmanuel Macron noch nicht komplett in trockenen Tüchern. Bis Freitag werden Misstrauensanträge der Opposition gegen die Regierung erwartet. Diese hatte das Anheben des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre am Donnerstag in letzter Minute mit Hilfe eines Sonderartikels der Verfassung ohne Abstimmung durchgedrückt. Sie war sich nämlich einer Mehrheit in der Nationalversammlung nicht sicher. Zwar hatten die konservativen Républicains erst Unterstützung für das Mitte-Lager des Präsidenten signalisiert, die dann aber bröckelte.
Medien in Frankreich und seinen Nachbarländern kommentieren die Rentenreform:
Frankreich
La Libération: "(Der französische Präsident) Emmanuel Macron hat alle Eier, die er im Kühlschrank hatte, aufgeschlagen, aber es ist ihm nicht gelungen, ein Omelett zu machen. (...) All das, um nach Wochen gegenteiliger Erklärungen den schändlichen Artikel 49.3 zu zücken, um eine Abstimmung zu verhindern, die er zu verlieren drohte. (...) Ist er wirklich davon überzeugt, dass die Märkte nur auf seine Reform warten? (...) Was die Märkte am meisten hassen (...) ist Instabilität. Und seine schlecht durchdachte Rentenreform treibt Frankreich, seine Demokratie und seine Arbeitnehmer direkt in diese Instabilität. Der Präsident könnte die Lage retten, indem er ankündigt, dass das Gesetz nach seiner undemokratischen Verabschiedung aufgehoben wird. Aber es ist nicht seine Art, den Franzosen zuzuhören."
Deutschland
Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Noch beunruhigender als das politische Scheitern sind die 'finanziellen und wirtschaftlichen Risiken', die der Elysée-Palast zur Begründung für den verkürzten parlamentarischen Abstimmungsprozess angeführt hat. Präsident Macron hat seine Landsleute bislang in der Sicherheit gewogen, dass die Staatsfinanzen solide seien. Appelle zu Einsparungen gab es so gut wie nie, eine Debatte über die hohe Verschuldung während des Präsidentschaftswahlkampfes nicht. Zwar hatte Finanzminister Bruno Le Maire ein Ende der 'Was immer es koste'-Haltung angekündigt, aber Macron vermittelte den Eindruck, dass er selbst nicht daran glaube. Immer neue kostspielige Finanzspritzen zur Inflationsbekämpfung wurden vorgestellt.
Deshalb mutet es verwunderlich an, dass Macron eine drohende Abstimmungsniederlage über die Rentenreform mit Verfassungsartikel 49.3 vereitelte, um finanzielle Risiken abzuwenden. Mit der Argumentation hat der Elysée-Palast erstmals den Schleier über der Schuldenspirale weggerissen. Mit der Rentenreform verbindet sich die Hoffnung auf Einsparungen von jährlich bis zu 17 Milliarden Euro. Doch die Warnung vor den "finanziellen Risiken" kommt zu spät, um den Zorn im Land zu besänftigen. Die Methode Macron ist gescheitert."
Reutlinger General-Anzeiger: "Doch Macron hat nur einen Scheinsieg errungen. Denn bei der Rentenreform ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Macrons Regierung muss mit einem Misstrauensvotum rechnen. Noch schwerer wiegt aber der Vertrauensverlust, den sich der Präsident selbst zugefügt hat. Eine so wichtige und umstrittene Sozialreform, ohne echte politische Legitimation durchzudrücken, ist ein fataler Fehler. Es wird dazu führen, dass sich die Gegner zusammenschließen und Frankreich lahmlegen. Macron hat sein Land in die Krise gestürzt und sein Image als Pragmatiker und Erneuerer eines festgefahrenen politischen Systems dauerhaft beschädigt."
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Der Spiegel: "Zu einer Demokratie aber gehört es, Niederlagen zu akzeptieren und mühsam Kompromisse zu erringen. Zu beidem scheint diese Regierung derzeit unfähig zu sein. Kein äußerer Umstand zwang Macron, die Reform ausgerechnet in diesem Inflations- und Kriegswinter durchzuführen. Das Loch in der Rentenkasse war nicht so groß, das man sofort hätte handeln müssen. Was eigentlich hätte dagegen gesprochen, sich bis zum Sommer Zeit zu nehmen für Verhandlungen mit den Gewerkschaften, mit denen man gemeinsam eine umfassendere, ehrgeizigere Reform als die jetzige hätte entwerfen können?
Denn natürlich ist eine Rentenreform dringend notwendig. Und vernünftig."
Tagesschau.de: "Und so ist es am Ende die französische Demokratie selbst - die Präsidialdemokratie - die als Verliererin dasteht. Man kann kein so streitlustiges, streikfreudiges, von Revolutionsromantik durchdrungenes Volk mit einer Verfassung regieren, die es erlaubt, Abstimmungen auszuhebeln. Das geht auf Dauer nicht gut."
Volksstimme (Magdeburg): "Emmanuel Macron wollte das Feuer um die französische Rentenreform austreten. Er facht es aber noch mal richtig an, indem er das Gesetz ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung peitscht. Das ist in Frankreich nicht verboten, nimmt dem Gesetz aber die parlamentarische Legitimation. Macron musste um die Zustimmung der Republikaner für sein Lieblingsprojekt fürchten, deshalb die Sicherheitsvariante. Ein derartiges Edikt ist anfechtbar. Durch ein Misstrauensvotum, das gleich die gesamte Regierung zu Fall bringen könnte. Das öffnet Spekulationen und Demonstrationen weiter Tür und Tor. Die Absegnung der Reform sollte Stabilität schaffen und unruhige Wochen in Frankreich beenden. Jetzt dürfte es erst richtig zur Sache gehen. Auf den Straßen, wo neue Massenproteste das Gesetz versenken könnten. Nicht minder in der Politik: Die zahlreichen Gegner Macrons werden nichts unversucht lassen, den Präsidenten zu stürzen."
England
The Times: "Emmanuel Macron hat beachtlichen politischen Mut bewiesen, als er das Gesetz zur Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre durchdrückte. Nach einem gescheiterten Versuch, die Unterstützung des Parlaments zu erhalten, verzichtete der französische Präsident auf eine Abstimmung und entschied sich für ein Dekret. Angesichts seiner politischen Isolation in dieser brisanten Frage ist dies ein mutiger - manche würden sagen tollkühner - Schritt. Aber es ging um eine Herausforderung, die gemeistert werden musste. Frankreich kann sich sein luxuriöses Rentensystem nicht mehr leisten. (...)
Derweil machte sich die Rechtsaußen-Politikerin Marine Le Pen das Unbehagen über den Präsidenten zunutze und kündigte ein Misstrauensvotum an. Macron muss das durchstehen. Frankreich wird manchmal als unreformierbar angesehen. Das Gesetz zur Rentenreform wurde verschiedentlich als "unmenschlich" und "brutal" kritisiert. Nichts dergleichen trifft zu. Wenn sich die Zeiten ändern, muss sich auch Frankreich mit ihnen ändern."
Schweiz
Neue Zürcher Zeitung: "Die Anwendung des Verfassungsartikels 49.3 ist völlig legal. Doch schwächt eine Verabschiedung des Gesetzes ohne Abstimmung in der großen Kammer die Akzeptanz der Reform. Das Vorhaben ist von Anfang an in der Bevölkerung extrem unpopulär gewesen. Und die Gewerkschaften haben bereits angekündigt, weiter zu demonstrieren. Mit zunehmenden Ausschreitungen bei Protesten muss gerechnet werden. Allenfalls könnte die Reform dennoch verhindert werden: falls gegen die Regierung ein Misstrauensantrag gestellt wird und dieser durchkommt.

Das Erstere wird auf jeden Fall versucht werden, das Letztere wird sehr wahrscheinlich nicht gelingen. Dennoch ist die Regierung geschwächt, und die Rentenreform, obwohl angenommen, ist für sie eine Niederlage. Das Rentenalter wird mit der Reform bis 2030 sukzessive von 62 auf 64 Jahre ansteigen. Die Beitragszeit wird auf 43 Jahre verlängert. Und die meisten Renten-Spezialregime werden abgeschafft. Das ist gut. Die Reform war dringend nötig."
Weitere Quellen:"NZZ", "Der Spiegel", "Tagesschau.de", "The Times".