Die Leute im Dorf finden das Verhalten des Jungen wahrscheinlich sonderbar, dumm und ein bisschen beängstigend. Dass der Kleine, der die Ziegen und Schafe seines Stiefvaters bewachen soll, Tiere stiehlt und entführt, ist nichts Besonderes. Das tun viele der Hirtenjungen. Das Land ist arm, und das Steppendorf Ouja nahe dem Städtchen Tikrit gehört zu den kargsten Landstrichen des erst ein paar Jahre zuvor entstandenen Staates Irak. Die meisten Hirten bewachen Herden, die ihnen nicht gehören. Geht ein Tier verloren, müssen sie Ersatz leisten - und stehlen. Schlägereien, Schießereien sind an der Tagesordnung in dem Dorf ohne Strom und Wasser, ohne Recht und Gesetz.
Was er gestohlen hat, gibt er nie zurück
Aber dieser Junge ist anders: Wird er beim Stehlen eines Tieres erwischt, gibt er seine Beute niemals zurück. Lieber quält er die Tiere mit rot glühend erhitzten Eisenstangen, tötet sie, weidet sie aus. Was er nicht bekommen oder behalten kann, das zerstört er lieber, als es aufzugeben.
Sein Vater wird "Hassan, der Lügner" genannt
Niemand gibt viel darauf, keiner ahnt auch nur im Entferntesten, was aus diesem Jungen einmal werden wird. Nicht einmal Subha Tulfah, die ewig fluchende Mutter des Balgs. Und die verdient mit Prophezeiungen einen Teil ihres kümmerlichen Unterhalts, zieht in ihren schwarzen Gewändern mit tiefen Taschen voller Muscheln durch die Straßen und sagt den Nachbarn die Zukunft voraus. Ihr Mann, den sie im Dorf "Hassan, den Lügner" nennen, weil er überall herumerzählt, als Pilger Mekka besucht zu haben, obwohl er nie über die Landesgrenzen hinausgekommen ist, hasst den Sohn, der nicht der seine ist. Im Morgengrauen jagt er ihn mit seinem teerbezogenen Stock nach draußen, und des Abends vergnügt er sich damit, auf Arme und Beine des Jungen einzudreschen, der wie verrückt umherspringt, um den Schlägen auszuweichen.
Vielleicht wäre aus Saddam Hussein nie mehr als ein Schläger, Killer und Kleinkrimineller geworden, wäre da nicht sein Onkel gewesen: Khairallah Tulfah, ein glühender Nationalist, Armeeoffizier, Bewunderer Hitlers und Mussolinis, lehrt Klein-Saddam lesen, töten und die Briten hassen, die in Wirklichkeit die Marionettenmonarchie von Bagdad beherrschen.
Mit zwölf der erste Job - als Killer
Hineingeboren in die archaische Welt der Beduinenstämme, denen Stärke, Macht und Rache alles sind und denen Vergebung oder Kompromisse als tödliche Schwäche gelten, wird Saddam von seinem vergötterten Onkel lernen, wie man sich durchsetzt: Legenden nach hat Khairallah ihn schon mit zwölf Jahren losgeschickt, einen Verwandten zu ermorden.
All das liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Aber auf seinem langen Weg vom Ziegenhirten zum Diktator werden es in den folgenden Jahrzehnten immer wieder jene gleichen Brandmale der Grausamkeit sein, die Saddams Handlungen kennzeichnen: mit allen Mitteln immer mehr Macht in seine Hände zu bekommen, umzubringen, wer sich widersetzt, zu zerstören, was ihm im Weg ist oder was er nicht bekommen kann.
Groß geworden mit dem Hass und der Menschenverachtung seines Onkels, brennt der junge Saddam nach Anerkennung und Aufstieg - und findet seine Heimat in der Baath, der Partei der "Wiedergeburt", einer Mixtur aus arabischem Nationalismus mit sozialistischen Einsprengseln, die aus dem Irak mit seinem Vielvölkergemisch einen revolutionären arabischen Staat schaffen will. Saddam bekommt seinen ersten großen Auftrag: zusammen mit anderen den Diktator General Abdel Karim Kassem zu ermorden. Am Abend des 7. Oktober 1959 warten die Attentäter im Hinterhalt auf ihr Opfer. Doch der 22-Jährige vermasselt alles: Er, dessen Name "der, der die Konfrontation liebt" bedeutet, schießt zu früh, der Diktator überlebt schwer verletzt. Saddam, von einem Mitverschwörer am Bein getroffen, flieht über Syrien nach Ägypten.
Die erste Niederlage, die er seiner Ungeduld verdankt - Saddam schafft es, sie später in einen Heldenmythos zu verwandeln: wie er sich schmerzverachtend das Geschoss aus dem Bein geschnitten, durch den Tigris geschwommen, durch die Wüste entkommen sei. Was immer er tut, wird er später von seinem Propaganda-Apparat zum Sieg erklären lassen - sei es das Attentat auf Kassem, seien es seine Kriege gegen den Iran und Kuwait, lauter Siege.
1968 gelingt der Putsch
Aber erst einmal taucht er unter, kehrt nach Kassems Hinrichtung 1963 zurück, baut ab 1964 den Geheimdienst der Baath-Partei auf - bis er 1968 den schließlich erfolgreichen Putsch der Partei mit anführt. Er ist kein großer Redner, kein Volkstribun wie Ägyptens Abd el-Nasser, und er weiß es: Still, blitzgescheit und unermüdlich geht er als Vizepräsident daran, den Apparat der Partei von innen zu beherrschen. Spielt eine Fraktion gegen die andere aus und redet jeder Seite ein, er erledige die Drecksarbeit des Liquidierens für sie. Nach und nach räumt er alle Widersacher aus dem Weg, dazu jene, die dereinst dazu werden könnten. Während Saddam nach innen den Schrecken orchestriert, treibt er nach außen den Aufbau des Irak als einen modernen Staat voran: forciert den Bau von Straßen, Fabriken, Schulen, Universitäten - für seine Alphabetisierungskampagne gibt es sogar einen Preis von der Unesco. Hunderttausende gehen zu den Kursen. Wer sich weigert, wird verhaftet.
1979: Der Hirtenjunge ist ganz oben
1979 ist es schließlich so weit: Präsident und Feldmarschall al-Bakr tritt "aus gesundheitlichen Gründen" zurück und wird im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht umgebracht. Der Hirtenjunge ist dort, wo er hinwollte: ganz oben, Herr über das einzige Land im Nahen Osten, das sowohl über viel Wasser als auch über riesige Ölvorräte verfügt. Und um sich niemals wieder von dort vertreiben zu lassen, als zerstückelte Leiche zu enden wie König Feisal oder am Galgen wie Kassem, hat Saddam sich eine Inszenierung ausgedacht, wie sie raffinierter auch Stalin kaum hätte einfallen können: Wenige Tage nach al-Bakrs Rücktritt im Juli 1979 ruft Saddam alle Mitglieder des Revolutionrates und Hunderte Parteiführer zusammen.
Die entscheidende Schlacht im Revolutionsrat
Sie sitzen im von Bewaffneten umstellten Konferenzsaal, als Saddam zu den Mikrofonen schreitet, eine große Zigarre in der Hand. Er spricht von Verrat. Eine syrische Verschwörung, aufgedeckt in letzter Minute. Unter ihnen, im Publikum, seien die Verräter! Hinter einem Vorhang ist der zuvor tagelang gefolterte Generalsekretär des Rates verborgen, er tritt hervor, nennt ihre Namen und zeigt mit dem Finger auf sie. Einer nach dem anderen wird gepackt und aus dem Saal geschleppt, Panik breitet sich aus. Auf der Tribüne sitzt Saddam, Tränen laufen über seine fleischigen Wangen. Nachdem mehrere Dutzend Männer hinausgeschafft worden sind, tritt Saddam wieder an die Mikrofone, wischt sich die Tränen ab und wiederholt die Namen jener, die ihn so furchtbar enttäuscht haben. Die verschont Gebliebenen erheben sich und beginnen zu applaudieren, erst einzeln, dann alle, beginnen zu lachen, zu jubeln. Und werden anschließend auf Geheiß Saddams die "Verräter" vor laufenden Kameras eigenhändig erschießen. Damit sie wissen, dass fortan ihr Schicksal untrennbar mit dem ihres Herrn verbunden sein wird.
So funktioniert das System Saddam, von den Spitzen bis zu den Schergen, seit den siebziger Jahren bis heute. Tausende Parteifunktionäre und Offiziere sind seither Säuberungswellen zum Opfer gefallen. Sorgfältiger als die zu Tötenden werden oft jene ausgesucht, die sie erschießen. Denn jeder aus dem Exekutionspeloton soll wissen, auf wessen Seite er zu stehen hat. Fällt Saddam, werden auch all jene mit ihm untergehen, die jahrzehntelang für ihn gefoltert, gemordet haben. Im System Saddam gibt es keine Überzeugungen mehr, keine Gefolgschaft, die aus gemeinsamen Ideologien rühren würde, keine Nähe. Saddam ist kein Osama bin Laden, für den seine Jünger sich freiwillig in die Luft sprengen. All die vermummten Männer der Fedayin, der "Märtyrer-Brigaden", die bei Militärparaden in Bagdad vor der Tribüne marschieren - sie sind nichts als Showeinlagen des von Jahr zu Jahr groteskeren Personenkultes und Propaganda-Apparates. Innerlich ist Saddams Reich leer, stabilisiert allein von den Verstrebungen der Furcht. Da ist die Angst vor Saddams Schergen, die Angst vor den allgegenwärtigen Spitzeln, die Angst der Spitzel vor ihresgleichen - und umgekehrt die Angst der Schergen vor der Rache jener, deren Angehörige sie umgebracht haben. Das ganze Land wird beherrscht von einem vollkommenen System der Angst, die in jeden Winkel kriecht, die Eltern ihren Kindern und Männern ihren Frauen misstrauen lässt.
Niemand muss ihn lieber, jeder hat ihn zu fürchten
Saddam glaubt an gar nichts - außer an sich selbst und die Regeln der Macht, nach denen allein die Furcht seine Untertanen in Schach zu halten vermag. Niemand muss ihn lieben, auch wenn die Propaganda fortlaufend Kinderbilder zeigt, glückliche Sechsjährige, die in krakeliger Schrift ihrem "geliebten Papa Saddam" schreiben und mit großen Augen neben ihm stehen, als warteten sie auf Großvaters Süßigkeiten. Niemand muss ihn lieben, aber jeder hat ihn zu fürchten. Keiner darf sich seiner Gunst sicher sein - nicht einmal engste Vertraute wie die Vizepräsidenten Tarik Asis oder Izzat Ibrahim ad-Duri, denen Privilegien mal gewährt und mal genommen werden.
<Die Welt jenseits seines Reiches: ein Rätsel
Das System funktioniert so gut, dass Saddam Hussein, 1979 angekommen auf dem Gipfel der Macht, den Irak schrittweise in den Abgrund reißen kann, ohne darüber zu stürzen. So diabolisch brillant er sein eigenes Land kontrolliert, so dramatisch verkalkuliert er sich, wenn es um jene Sphäre geht, die er kaum kennt und nicht versteht: die Welt jenseits seines Reiches. Im Sommer 1980 lässt er seine Divisionen auf breiter Front im Iran einfallen, in der Annahme, dem durch die Wirren der Islamischen Revolution geschwächten Nachbarn die erdölreiche Provinz Khusistan entreißen zu können. Was als Blitzkrieg geplant war, wird ein acht Jahre langer Stellungskampf, der die Grenze nicht um einen Millimeter verschiebt, aber Hunderttausende das Leben kostet und aus dem reichen Irak ein Land mit Auslandsschulden in Milliardenhöhe macht. 1988 lässt Saddam das bloße Überleben als Sieg feiern. Und gönnt seinem Land anderthalb Jahre Atempause, kann aber weder die Schulden abzahlen noch seine auf eine Million Mann aufgeblähte Armee beschäftigen.
1990 schießt er wieder zu früh
Als sei es das Grundmuster seines Lebens, sich mit fieberhafter Flucht nach vorn aus den ausweglosen Lagen zu retten, in die er sich immer wieder hineinmanövriert hat, überfällt er im August 1990 Kuwait. Und glaubt, damit ungestraft davonzukommen. Doch wie schon 1959, als er den Anschlag auf den damals herrschenden General Kassem vermasselte, weil er zu früh schoss, besiegelt sein Überfall auf Kuwait alle Chancen, den Irak ungestört weiter aufzurüsten.
Die "Mutter aller Schlachten" wird für Saddam die größte aller Niederlagen - aber als daraufhin eine mörderische Revolte losbricht und im Februar 1991 binnen Tagen 14 der 18 Provinzen des Landes in die Hände der Aufständischen fallen, überlassen die Amerikaner jene Unglücklichen, die den Rebellionsaufrufen von George Bush sen. gefolgt sind, ihrem Schicksal und Saddams Republikanischen Garden. Nur Saddam kann das Kunstgebilde Irak nach einem Vierteljahrhundert Diktatur zusammenhalten, nur er kann die Iraker vor dem Ausbruch der Bestialität schützen, die er selbst in seinem Volk systematisch gezüchtet hat.
Der Staat herrscht über die Nahrung
Saddam mag die Kontrolle über die kurdischen Nordprovinzen verlieren, mag im mittlerweile zwölf Jahre andauernden Embargo den Irak langsam zugrunde gehen lassen - seine Macht wird eher verfeinert: Denn zur Beherrschung durch die Angst kommt nun noch die Beherrschung mittels Lebensmittelkarten. Je rapider das Volk verarmt, desto mächtiger wird das Monopol des Staates, der Nahrungsrationen gewährt oder verweigert.
Eine surreale Welt hat der Mann geschaffen, in der nur noch seine Wirklichkeit existiert und die einzigen frei erhältlichen Bücher über Demokratie von Saddam selbst stammen - darin der Kernsatz: "Sie haben viel geopfert, dennoch sollen sie darauf gefasst sein, dass wir danach trachten, dass sie mehr opfern."
Sein Bildnis ist überall, doch er bleibt unsichtbar
Allgegenwärtig begegnet der "Liebling der Massen", die "Sonne des Arabertums" seinen Untertanen in oft überlebensgroßen Konterfeis: als Feldmarschall vor den Ministerien, als Arzt vor dem Saddam-Kinderkrankenhaus, als frommer Betender vor den Moscheen im Süden, als kurdischer Koch im Norden, als Justitia vor den Gerichten und als Wanderer mit Tirolerhut. Sein Bildnis ist überall, aber er selbst seit Jahren unsichtbar, als ob er eine unfassbare Macht wäre, die alles weiß und jeden treffen kann. Deren Name unablässig in Fernsehen und Radio wiederholt wird, aber den auszusprechen man vermeidet, als beschwöre das Unglück herauf.
Der wahre Saddam lebt in seinem virtuellen Reich von Doppelgängern (die so täuschend echt wirken, dass Österreichs Jörg Haider unlängst einem gegenübersaß, ohne es zu merken) und mehreren Dutzend Palästen, in denen allesamt Hochbetrieb zu herrschen hat, als ob der Hausherr anwesend wäre; in denen Mahlzeiten für ihn bereitet werden, die er, falls er doch einmal vorbeikommt, erst anrührt, wenn sein Vorkoster sie probiert hat.
Niemals Schwäche zeigen
Angeblich wäscht er sich sofort die Hände, wenn er die eines anderen geschüttelt hat, lässt sich von allen Briefen nur Kopien überreichen aus Angst, das Original könnte vergiftet sein. Er übernachtet selten zwei Nächte am selben Ort, steht früh auf, zieht in einem seiner Pools seine Bahnen, hinkt aufgrund eines Rückenleidens, lässt sich sein Haar färben und Texte für Fernsehansprachen in riesigen Lettern vorlegen, weil es ein Zeichen von Schwäche wäre, eine Brille aufzusetzen. Diverse Biografen haben sich abgemüht, Saddams Charakter noch aus den abgelegensten Details zu erklären, streiten um seine angebliche Vorliebe wahlweise für Johnnie Walker blue label oder Mateus Rosé, seine Lieblingsfilme ("Der Pate" oder "Staatsfeind Nr. 1") oder darum, ob es in seinen Palästen von eher üppig gebauten Prostituierten wimmelt oder ob der Herr schlanke Mätressen bevorzugt. Was Saddam an persönlichen Obsessionen zum Monster fehlt, hat sein Erstgeborener Uday umso reichlicher: eine unersättliche Gier nach Frauen und Geld. Als Unbekannte ihn im Dezember 1996 mit mehreren Schüssen beinahe töten, haben so viele ein Motiv, dass die Täter nie ermittelt werden.
Saddam selbst interessiert nur eines: Macht. Und es ist Unsinn, wenn westliche Journalisten, Politiker und Geheimdienstler immerfort Saddams Familie, seinen Clan als letzte sichere Bastion seiner Herrschaft beschreiben. Den Morden fallen auch Verwandte zum Opfer. Deren Tod folgt nicht der Logik, dass sie gegen den Despoten sind, sondern es irgendwann sein könnten - wie Adnan Khairallah, Sohn seines geliebten Onkels und im Irankrieg populär gewordener Verteidigungsminister. Eine Bombe zerriss seinen Hubschrauber an einem wolkenlosen Tag. Offizielle Todesursache war ein Sandsturm.
Immun gegen Bedrohungen von innen?
Das System Saddam scheint immun gegen alle Bedrohungen von innen. Alle Putschversuche sind gescheitert. Zu wenige aus dem engsten Kreis der Herrschenden hätten eine Zukunft ohne ihn, zu viele potenzielle Gegner sind tot, im Exil. Zu groß ist die Angst aller vor dem Tod, der selbst jenen droht, die auch nur das Wissen um einen Putsch für sich behielten und entdeckt wurden.
Zwei Schwiegersöhne wurden erschossen
Selbst als 1995 Saddams Schwiegersöhne Hussein und Saddam Kamil nach Jordanien fliehen, aus Angst vor Uday, zeigt sich die Macht des Paten. Die Mächtigen im Irak sind Saddams Kreaturen. Er hat sie geschaffen, und wie mit Geisterhand kann er sie auch wieder vernichten, selbst wenn sie ihm bereits entkommen sind: Als Industrieminister und Leiter des irakischen Rüstungsprogrammes hat Hussein Kamil neben Saddam die intimsten Kenntnisse aller Chemie-, Bio- und Nuklearwaffenprogramme. Die gibt er bereitwillig preis und hofft, dafür von der Opposition zum neuen Führer erkoren zu werden, doch keiner will etwas mit ihm zu tun haben. Reumütig kehren die beiden Schwiegersöhne Anfang 1996 nach Bagdad zurück - um wenige Tage später erschossen zu werden.
Er will unsterblich werden
Es sei ihm egal, hat Saddam einmal seinem später ebenfalls geflohenen Geheimdienstchef Wafik Samarai erzählt, was die Menschen heute von ihm denken - entscheidend sei, dass die Schulkinder auch noch in 500 Jahren seinen Namen mit Schaudern aussprechen. Er will unsterblich werden, egal, auf welche Art. Er hat sich einen Stammbaum schreiben lassen, der ihn zum Nachfahren des Propheten macht, heuerte vor ein paar Jahren den James-Bond-Regisseur Terence Young an, ein sechsstündiges Epos über sein Leben zu drehen, und hat unlängst sein erstes eigenes Theaterstück aufführen lassen: "Zabiba und der König". Es handelt von einem einsamen König, der die Abgeschiedenheit seines Palastes flieht, indem er sich gelegentlich wie einst Harun al-Raschid unter sein Volk mischt. Dabei verliebt er sich in ein junges Mädchen, das tragischerweise mit einem brutalen Ehemann verheiratet ist. Ganz keusch kommen die beiden einander näher, und der König fragt Zabiba, ob er nicht manchmal zu grausam sei. Nicht doch, beruhigt ihn die junge Schöne: "Das Volk braucht strenge Maßnahmen, damit es sich durch die Strenge beschützt fühlt!" Als es zu Unruhen kommt, angestachelt von Zabibas eifersüchtigem Ehemann, vergewaltigt der seine Frau. Das Verbrechen geschieht an einem 17. Januar (eben jenem Tag, als 1991 die Luftangriffe auf Bagdad begannen). Und als der König seinem Volk mehr Freiheiten gibt, dankt es ihm mit Bürgerkrieg. Erst nach dem Tod des edlen Königs erkennt es, wie weise Zabibas Ratschlag war: Das Volk braucht strenge Maßnahmen.
Und damit es auf ewig weiß, wem es all seine Glorie zu verdanken hat, ist Saddam seit einer Weile dazu übergegangen, Moscheen zu bauen, drei neue allein in Bagdad. Aber was für Moscheen: Gotteshäuser im Weltformat, Kuppelmassive, die noch aus großer Entfernung alles andere überragen. Paläste, so sein Kalkül, wird man nach seinem Untergang zerstören können - aber niemand wird wagen, eine Moschee einzureißen. In die Ziegel hat er seine Initialen brennen lassen: SH, Saddam Hussein.
Kein Fanatiker, sondern Pragmatiker
Dabei ist Saddam - solange er seine Beute behalten darf - kein beseelter Fanatiker, kein zweiter Hitler. Dazu ist er viel zu pragmatisch. So hat er in den letzten Wochen getan, was keiner vermutet hätte: die UN-Inspektoren erst ins Land und sogar in seine Paläste gelassen, sich bei Kuwait für die Invasion von 1990 entschuldigt. Solange es seinem Machterhalt dient, übt selbst er sich in Gesten der Unterwerfung.
Saddam würde Zehntausende sterben lassen
Was aber wird geschehen, wenn die alliierte Armada tatsächlich angreift? Höchstwahrscheinlich zweierlei: Die immer noch um die 400.000 Mann starke, aber ebenso schlecht bezahlte wie ausgerüstete Armee wird dasselbe tun wie 1991 - kapitulieren. Wie damals werden die Städte des Südens, Basra, Kerbala, Najaf, fallen, wahrscheinlich binnen Tagen. Aber dann sind da jene, die um ihren Untergang wissen, wenn Saddam stürzt: die Angehörigen der Sondermilizen, Parteifunktionäre, Geheimdienstschergen. Niemand weiß, wie viele es sein werden, vielleicht 10.000, vielleicht 80.000, aber in Bagdad werden sie kämpfen, gegen die Amerikaner und ebenso gegen ihr eigenes Volk. Zum Märtyrer macht er skrupellos sein Volk, aber nicht sich selbst. Kommandozentralen werden, wie schon im letzten Krieg, unter Krankenhäusern, Luftschutzbunkern, Wohnhäusern untergebracht, und Saddam wird nicht zögern, Zehntausende zu Tode kommen zu lassen, wenn er sich einen Vorteil davon verspricht.
"Saddam würde alles zerstören. Alles."
Was wird Saddam tun, wenn er merkt, dass es zu Ende geht? In London hat sich Anfang Dezember die irakische Opposition versammelt, darunter viele der einst ranghöchsten Generäle des Irak, die geflohen sind. Wie Mahdi al-Duleimi, Befehlshaber von Hunderttausenden im Krieg gegen den Iran, der Saddam Hussein seit 1969 kennt. Mahdi al-Duleimi überlegt einen langen Augenblick, schüttelt leicht den Kopf: "Wallahi", bei Gott, "dann wird er alles zerstören. Alles." Anders als 1991, als Saddam Scud-Raketen auf Tel Aviv abfeuern ließ, gäbe es diesmal nichts, was ihn zurückhalten dürfte, all sein verbliebenes Arsenal an Bio- und Chemiewaffen auch einsetzen zu lassen von jenen, die wissen, dass sie an seiner Seite untergehen.
Was Nikolaj Bucharin, von Stalin ermordeter Weggefährte, einst über den sowjetischen Diktator schrieb, gilt gleichermaßen für dessen irakischen Schüler: "Stalin kann nicht leben, wenn er nicht alles hat, was andere haben!" Was er nicht haben, nicht beherrschen kann, wird Saddam Hussein eher zerstören als aufgeben. Sei es eine Ziege, seien es die Ölquellen Kuwaits, sei es sein eigenes Land.