Die Studenten starren zu Boden, vor ihnen Gedenkkerzen, die, im Kreise arrangiert, einen Sarg aus regen-nasser Pappe beleuchten. Unheimliche Stille, bis einer zum Megaphon greift. An den Sarg steht mit weißer Farbe geschmiert: Erasmus+. Ein Spätfebruartag auf dem Berner Bundesplatz, der eidgenössische Akademikernachwuchs beerdigt symbolisch das populärste, das wichtigste Austauschprogramm Europas. Der Protest steht für die jüngste Volte in der Schweiz-Kontroverse.
Zum Wintersemester 2014/15 schließt die Europäische Union das Alpenland aus dem Erasmus-Programm aus. Sie sanktioniert, dass die Schweizerische Regierung ein Freizügigkeitsprotokoll mit Kroatien nicht ratifizieren wollte, als Reaktion auf den Volksentscheid, bei dem eine knappe Mehrheit für einen Zuwanderungsstopp votiert hatte. Auch bei Horizon 2020 soll die Schweiz nicht mehr mitmachen dürfen – das milliardenschwere Programm fördert europäische Forschung und ist erste Anlaufstelle für Wissenschaftler und Hochschulen. Die Schweiz wird von der EU künftig wie ein Drittstaat behandelt.
Studenten hoffen auf Einflussnahme
Die Studenten bekommen die neue Beziehung jetzt schon zu spüren, sie sind die ersten Leidtragenden der SVP-Initiative, zerrieben zwischen den politischen Akteuren, zwischen Bern und Brüssel. "Es herrscht große Ungewissheit bei allen; wir laufen Gefahr, völlig isoliert zu werden", sagt Lea Meister, Vorstandsmitglied des Schweizer Studierendenverbandes VSS. Sie und ihre Mitstreiter hoffen, über Protestaktionen wie jene in Bern dem EU-Dekret doch noch beizukommen; hoffen auf eine Amnesie, neuerliche Gespräche.
Am 1. März rief der VSS zur Kundgebung in die Hauptstadt auf, 10.000 kamen, etliche mit Bus und Bahn aus anderen Kantonen. Sie alle fürchten ein Studium ohne erasmusgefördertes year abroad, sie fürchten Horizontbeschränkung statt Horizonterweiterung. Demonstrieren geht dieser Tage vor Studieren. "Wenn Erasmus wegbricht, fehlt vielen Studis aus dem Ausland auch die Motivation, hierher zu kommen", so Meister. Die Slavistikstudentin ärgert sich, dass die Initiatoren der Zuwanderungsbeschränkung versichert hatten, Abkommen wie Erasmus+ würden von dem Votum definitiv nicht berührt. Sie hatte dem geglaubt.
Tausende Erasmusler gingen in die Schweiz
Seit 1987 haben über drei Millionen Studierende mittels Erasmus im Ausland studiert. 250.000 waren es allein im Hochschuljahr 2011/12 – darunter 2514 Schweizer. Im Gegenzug empfing das Land etwa 3900 Erasmusler, die meisten davon aus Deutschland. Erasmus+ heißt das ab 2014 greifende Nachfolgeprogramm, es umfasst noch mehr Stipendiatsmöglichkeiten und deutlich mehr finanzielle Mittel als der Vorgänger. Bisher betrug der monatliche Zuschuss über Erasmus 252 Euro plus Reisebonus.
Weil dieses Geld fehlt, gruppiert sich auch im Internet die Wut. Der Online-Appell "Not without Switzerland", initiiert von Hochschulen und Dozenten, Forschern und Studenten, fordert die Politik in Europa und der Schweiz auf, über eine verträglichere Lösung zu beraten. Bis Montagabend hatten ihn bereits 20.000 Empörte unterzeichnet. Reicht das?
Ab Oktober ist die Schweiz raus
Reinhard Hönighaus, Sprecher der EU-Kommissionsvertretung in Berlin, glaubt nicht: "Erasmus ist wie alle bilateralen Verträge an die Freizügigkeit gekoppelt. Wir müssen unsere Grundidee verteidigen." Heißt konkret: Ab Oktober ist die Schweiz raus. Dann würde sich die Zahl ausländischer Studierender wohl drastisch reduzieren, und weil die Austauschsysteme auf Gegenseitigkeit beruhen, wären auch vielen Schweizern die Plätze im Ausland blockiert. Mobilität, bis dato selbstverständlich, würde zum Luxus, entweder organisiert über Extraverträge oder finanziert durch betuchtere Eltern.
Will man die entstehende Lücke erfassen, lohnt ein Blick an die Universität Zürich. Die Hochschule unterhält 430 Erasmus-Verträge mit über 210 Partnerstandorten in Europa. Sprecherin Bettina Jakob teilt deshalb die Sorge der Protestler: "Die Schweiz verliert als Zielland an Attraktivität und für sozial schlechter gestellte Studierende ist ein Auslandsaufenthalt unter Umständen nicht mehr möglich." Weil man aber auch hier nach wie vor auf eine Lösung spekuliert, werden die Studierenden angehalten, sich weiterhin zu bewerben. Im Zweifelsfall hofft man auf den Schweizer Bundesrat, der alternative Finanzierungen beratschlagt.
Dieter Schlüter ist deutscher Professor in Zürich, an der Technischen Hochschule lehrt er seit 2004 Polymerchemie. Das Thema begegnet ihm im Gespräch mit Kollegen – und bisweilen am Telefon. "Neulich hat mich ein Student aus dem europäischen Ausland angerufen und einen Platz angefragt. Dem musste ich sagen, dass er erstmal abwarten soll, wegen der politischen Großwetterlage", berichtet Schlüter. Der Dozent vermutet, dass sich besagter Student hernach schnell in einem anderen Land erkundigt hat. Irgendwo, wo Erasmus nicht zu Grabe getragen wurde.