Mit dem blutigen Putschversuch eines Teils der türkischen Armee am Freitagabend scheint die Türkei in eine längst überwunden geglaubte Epoche zurückzufallen. Das türkische Militär sieht sich traditionell als Hüter der Verfassung, die eine Trennung von Staat und Religion vorschreibt. Seit Gründung der Republik 1923 intervenierte die Armee vier Mal, weil sie das Erbe des Staatsgründers Kemal Atatürk in Gefahr sah, doch schien zuletzt die Gefahr einer Intervention gebannt.
Das erste Mal übernahmen Offiziere nach heftigen innenpolitischen Unruhen 1960 in einem unblutigen Putsch die Macht. Der gewählte Regierungschef Adnan Menderes wurde abgesetzt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Armee gab die Regierung nach kurzer Zeit an die politischen Parteien zurück, schuf aber ein militärisches Gegengewicht - den Nationalen Sicherheitsrat, der mehrheitlich aus Vertretern der türkischen Streitkräfte besetzt war.
Muskelspiele des Militärs
1971 erzwangen die Generäle mit einer Art Ultimatum den Rücktritt der gewählten Regierung von Süleyman Demirel. In den folgenden Jahren blieb das politische System aber instabil, kurzlebige Regierungen lösten einander ab. Die Spannungen zwischen linken, rechten und islamistischen Gruppierungen eskalierten zu offener Gewalt. Am 12. September 1980 riss die Armee die Macht an sich, verbot alle Parteien und nahm führende Politiker fest.
1997 ließ das Militär erneut die Muskeln spielen. Ministerpräsident Necmettin Erbakan, der geistige Vater mehrerer islamistischer Parteien, wurde von den Generälen mit einer Machtdemonstration in Ankara zum Rücktritt gezwungen. Auch als im November 2002 die islamisch-konservativen AK-Partei von Recep Tayyip Erdogan die Wahlen gewann, wurde erneut eine Intervention des Militärs befürchtet, das eine Abkehr vom Säkularismus befürchtete.
Als im Frühjahr 2007 das von der AKP dominierte Parlament Abdullah Gülen zum Staatspräsidenten wählen wollte, kam es zu einer ernsten Krise. Doch die AKP setzte sich durch und in den folgenden Jahren schränkte die Regierung den politischen Einfluss der Armee zunehmend ein. Unter dem Vorwurf, als Teil eines angeblichen geheimen Netzwerks namens Ergenekon einen Umsturz zu planen, wurden zudem dutzende hochrangige Militärs vor Gericht gestellt.
Die Einschränkung der Befugnisse des Militärs war auch eine wichtige Bedingung für die EU-Beitrittsgespräche. Nachdem es der AKP-Regierung gelungen war, die wichtigsten Führungsposten neu zu besetzen, schien das Militär seinen Rückzug aus der Politik akzeptiert zu haben. Welche Rolle die Führung der Streitkräfte bei dem Putschversuch am Freitag spielte, war unklar. Ein Teil des Militärs war offenbar aber nicht bereit, die Politik den Zivilisten zu überlassen.