Anzeige
Anzeige

Türkei Der lange Marsch in die EU

Über vierzig Jahre nach dem ersten Beitrittsantrag der Türkei verhandelt die Europäische Union mit dem Land am Bosporus über eine EU-Vollmitgliedschaft. Überraschend fiel auch der Startschuss für Beitrittsverhandlungen mit Kroatien.

Um 23.45 am Montag wurden die Türen weit für die Türkei geöffnet - und es wehte ein kühler Wind vom Luxemburger Kirchberg in das Konferenzgebäude. Um 0.25 dann kam er endlich, der Langerwartete. Abdullah Gül, Außenminister der Türkei, erschien zur ersten Verhandlung über den Beitritt seines Landes zur Europäischen Union. Der Versuch des britischen Kollegen Jack Straw, ihn zu umarmen, traf Gül unvorbereitet: Etwas verkrampft wich er dem Kussmund des Engländer aus, bevor ihn unabwendbar die Umarmung des finnischen Erweiterungskommissars Olli Rehn ereilte. Gül erklärte: "Ich hoffe, das wird gut für die Türkei, für Europa und für die ganze Welt sein." Direkt im Anschluss gab die EU den Startschuss für Beitrittsverhandlungen mit Kroatien.

Überhaupt konnte der direkt aus Ankara eingeflogene Gül nicht nur etwas über die ungestümen Begrüßungsrituale in der EU dazulernen, sondern auch über den lockeren Umgang mit Raum und Zeit. Am Montag, dem 3. Oktober, hatten die Erweiterungsverhandlungen laut Beschluss des EU-Gipfels vom Dezember 2004 beginnen sollen. Und weil es wegen des rund 30-stündigen internen Streits der EU nun doch schon Dienstagmorgen gewesen war, enthüllte Straw kurz nach der Geisterstunde, es sei eigentlich doch noch Montag: "Ich habe kurz vor Mitternacht britischer Zeit zu reden begonnen. Und es gilt natürlich die Zeit der Ratspräsidentschaft."

"Europa hat heute gewonnen"

Straw sprach nach einem mehr als 30-stündigen Krisentreffen der 25 EU-Außenminister von einem "historischen Tag". Jede Erweiterung habe die vorhandenen Mitgliedstaaten stärker und wohlhabender gemacht. "Ich habe absolut keine Zweifel, dass dies auch jetzt wieder so sein wird." Außenminister Joschka Fischer zeigte sich erleichtert über den Start der Verhandlungen. "Europa hat heute gewonnen." Es sei gelungen, einen einstimmigen Beschluss über den Rahmen der Verhandlungen mit der Türkei herzustellen.

Vorausgegangen war ein verzweifeltes Ringen der EU-Außenminister um eine Beilegung des Streits mit Österreich, das sich bis Montagnachmittag geweigert hatte, die Vollmitgliedschaft als Verhandlungsziel festzuschreiben. Auf Druck ihrer 24 Amtskollegen akzeptierte die österreichische Außenministerin Ursula Plassnik schließlich aber im Text des Verhandlungsrahmens den Satz: "Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft".

"Aufnahmefähigkeit" der EU berücksichtigt

Österreich setzte aber einen Verweis auf den Artikel 49 des EU-Vertrages durch, in dem die Anforderungen an jedes neue Mitglied detailliert aufgelistet sind. Zudem wurde vereinbart, dass die "Aufnahmefähigkeit" der EU ein wichtiges Kriterium für jede neue Erweiterung sei. Plassnik zeigte sich nach am Ende der Gespräche zufrieden. Die Aufnahmefähigkeit der Union sei dank österreichischen Drängens "zu einem Thema geworden, sie ist in unser politisches Bewusstsein gerückt".

"Dies ist ein Schritt von riesiger symbolischer Bedeutung", pries Straw das Erreichte. "Dies wird die EU stärken, denn sie gründet sich jetzt auf gemeinsame Werte und nicht auf Geschichte. Es geht nicht um Religion, sondern um gemeinsame Werte." Dass die Türkei noch viel zu tun hat, um diese gemeinsamen Werte nicht nur auf geduldigem Papier, sondern im wirklichen Leben zu garantieren, blieb in den offiziellen EU-Erklärungen nicht unerwähnt. Denn in dem sozusagen "amtlichen" Text, den Straw verlas, wollten alle 25 EU-Staaten - natürlich auch Zypern und Griechenland - ihre Positionen erwähnt haben. Und auch andere EU-Mitglieder sehen die Verhandlungen vor allem als Vehikel, um in den kommenden Jahren die Türkei an die westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten heranzuführen.

Plötzlich zwei neue Beitrittsländer

Straw konnte das Werte-Thema dann aber nicht mehr vertiefen. Die nächste Amtspflicht rief ihn: Der Beginn der Erweiterungsverhandlungen mit Kroatien. Der Balkanstaat kam aus der politischen Kälte und darf jetzt mit der EU verhandeln, weil er endlich gut mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal zusammenarbeitet. Ab Dienstag oder Montag hat die EU gleich zwei neue Beitrittsländer: Kroatien und die Türkei.

In den frühen Morgenstunden eröffnete Straw offiziell die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, die im März dieses Jahres wegen mangelnder Kooperation Zagrebs mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal auf Eis gelegt worden waren. Die Chefanklägerin des Tribunals in Den Haag, Carla del Ponte, bewertete die Bereitschaft zur Zusammenarbeit am Montag als "zufrieden stellend". Die Regierung Kroatiens scheine scheine den politischen Willen zu haben, den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ante Gotovina zu finden, zu verhaften und auszuliefern.

Offiziell wurde zwar ein Zusammenhang zwischen der Einigung in der Türkei-Frage und dem Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Kroatien dementiert. Diplomaten betonten aber am Rande der Krisensitzung, die Entscheidung zur Verhandlungsaufnahme mit Zagreb habe das Einlenken Österreichs begünstigt. Kroatiens Ministerpräsident Ivo Sanader sprach von einem großen Tag für sein Land. Kroatien werde den Reformkurs fortsetzen und weiter mit dem Tribunal voll kooperieren.

mit DPA, AP AP

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel