Seit Monaten beschäftigt die Weltgemeinschaft eine bange Frage: Plant Wladimir Putin mit seinen Truppen eine Invasion der Ukraine? In einer Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kündigte der russische Präsident nun an, die Separatisten-Gebiete des Landes mit seinen Truppen "zu sichern" – und ließ sie die Grenze überschreiten. Doch obwohl Joe Bidens US-Regierung mit hartem Vorgehen bei einer Invasion drohte, blieb das bislang aus. Denn: Der Grenzübertritt wird bislang nicht als solche bewertet.
Das zeigte auch die Rhetorik der US-Regierung im Sicherheitsrat. Der Truppeneinmarsch sei "eindeutig die Grundlage für den Versuch Russlands, einen Vorwand für eine weitere Invasion der Ukraine zu schaffen", erklärte die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield. Entsprechend gemäßigt fiel die Reaktion des Weißen Hauses aus. Zwar verkündete man sofort Sanktionen wie eine Handelssperre mit den Separatisten-Gebieten, die im Invasionsfall angedrohten harten Maßnahmen blieben aber bislang aus.
Noch keine Invasion aber Verletzung der ukrainischen Integrität
Der Grund dafür liegt in der Ankündigung Russlands zum Einmarsch der Truppen. Zwar haben russische Einheiten die Grenze der Ukraine überschritten. Sie beschränken sich dabei aber bislang – wie von Putin auch angekündigt – auf die Gebiete, in denen es bereits zuvor politische Bewegungen gab, die den Anschluss an Russland forderten. "Russische Truppen in den Donbas zu schicken, ist an sich kein neuer Eskalationsschritt", erklärte ein hochrangiger Mitarbeiter der Regierung laut der "Washington Post" in einem Gespräch mit Journalisten. "Russland hatte bereits für die letzten acht Jahre bewaffnete Einheiten in der Donbas-Region in Stellung."
Das bedeutet aber nicht, dass die USA den Truppeneinmarsch als harmlos abtun. Es handle sich um einen "klaren Angriff auf die Souveränität der Ukraine", machte Thomas-Greenfield in ihrer Rede klar. Russlands Behauptung, die Truppen sollten den Frieden wahren und die Separatisten-Gebiete vor einer vermeintlichen Aggression der Ukraine schützen, tat sie ab: "Das ist sehr klar Unsinn. Wir wissen, wofür sie wirklich stehen."

Hoffnung auf Diplomatie
Dass die USA sich in der Bewertung der Situation aktuell noch zurückhalten, dürfte in erster Linie strategische Gründe haben. Wie die europäischen Verbündeten wollen die Vereinigten Staaten noch die Tür für Verhandlungen offen halten und den Ausbruch eines offenen Krieges verhindern. Die Befürchtung: Jetzt schon von einer Invasion zu sprechen, könnte Präsident Putin vom Verhandlungstisch treiben und die Option einer diplomatischen Lösung vom Tisch nehmen. Und damit erst Recht den bewaffneten Konflikt im gesamten Land auslösen.
Stattdessen planen die USA und ihre Verbündeten, zunächst mit schärferen Sanktionen Druck aufzubauen und so die Basis für weitere Verhandlungen zu schaffen. Schon am Dienstag will man gemeinsam weitere Sanktionen beschließen. Laut mehreren Presseberichten soll es sich laut Mitarbeitern der US-Administration dabei aber noch nicht um die angekündigten harten Maßnahmen im Falle einer Invasion handeln. Diese würden erst zum Tragen kommen, wenn Putin tatsächlich in weitere Bereiche der Ukraine einrücken sollte.
Kritik Zuhause
In den USA muss sich Biden für seine Strategie bereits Kritik gefallen lassen. Nachdem sich die politische Konkurrenz der Republikaner nach dem Einmarsch zunächst hinter die Regierung stellte, wird Bidens Zögern beim Verhängen harter Sanktionen als Zeichen der Schwäche gewertet. "Ich stehe bereit, um mit der Biden-Administration die härtesten Sanktionen durchzusetzen", erklärte etwa der republikanische Abgeordnete Lindsay Graham bei Twitter. "Die Frage ist, ob die Biden-Administration den Willen und die Entschlossenheit hat, das auch zu tun."
Dem russischen Präsident dürfte diese Uneinigkeit nur Recht sein. "Präsident Putin klopft das internationale System ab, stellt unsere Entschlossenheit in Frage", erklärte die US-Topdiplomatin Thomas-Greenfield in ihrer Rede bereits. "Er schaut, wie weit er uns alle vor sich herschieben kann." Aktuell scheint sich der Westen darüber auch selbst noch nicht sicher.
Quellen: Washington Post, New York Times, Twitter