Die Szenerie klingt wie aus einem Endzeitthriller entliehen: Hochgerüstete Soldaten marschieren in ein Land ein und übernehmen nach wenigen Stunden die Kontrolle über eine weltberühmte, hochgefährliche Atomruine. Warum tun sie das? Was haben sie damit vor? Tatsächlich ist es kein Film, sondern seit Donnerstag Realität. Nach der Invasion in die Ukraine haben russische Truppen das frühere Atomkraftwerk Tschernobyl erobert, mittlerweile bewachen Fallschirmjäger das Gelände, zusammen mit Spezialisten eines ukrainischen Wachbataillons, wie ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums sagte.
"Russland will die Welt mit einer Atomwolke erpressen"
"Sollten russische Truppen wirklich versuchen, die Sperrzone um das 1986 explodierte Kernkraftwerk in ihre Kontrolle zu bringen, kann dies nur eins bedeuten: Moskau wird nicht nur Europa, sondern auch die Welt mit einer Atomwolke erfolgreich erpressen können. Wir alle erinnern uns an die Schäden, die der explodierte Meiler in Europa anrichtete", orakelt die bulgarische Zeitung "24 Tschassa" bereits düster. Auch die USA sind besorgt: "Diese unrechtmäßige und gefährliche Geiselnahme, die routinemäßige Arbeiten zum Erhalt und zur Sicherheit der Atommüll-Einrichtungen aussetzen könnte, ist unglaublich alarmierend und sehr besorgniserregend", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki.
Das Unglück von Tschernobyl am 26. April 1986 gilt als die größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Atomkraft. Im vergangenen Sommer war ein neues Atommüllzwischenlager in der radioaktiv verseuchten Sperrzone um Tschernobyl eingeweiht worden. Neun Jahre lang wurde eine neue Schutzhülle für den Unglücksreaktor Block 4 gebaut, die seit 2019 die Ruine von der Umwelt abkapselt. Das Sperrgebiet um das AKW ist auf ukrainischer Seite rund 2600 Quadratkilometer groß. Auch im unmittelbar benachbarten Belarus gibt es ein großes Schutzgebiet.
Sperrzone liegt auf dem Weg der Invasoren
Dass russische Soldaten die Gegend um Tschernobyl eingenommen haben, dürfte in erster Linie geografische Gründe haben. Russland ist mit einer Zangenbewegung in die Ukraine einmarschiert: Vom Süden (Krim), Osten (über den Donbass) und über Belarus vom Norden aus. Das havarierte Kernkraftwerk liegt rund 20 Kilometer von der Grenze entfernt. Das Dorf Tschernobyl ist noch einmal genauso weit weg, dort beginnen auch Landstraße und die Autobahn bis in die rund 130 Kilometer entfernte ukrainische Hauptstadt Kiew. Die Sperrzone liegt also auf dem Weg der Invasoren.
Dann spielt womöglich auch die Infrastruktur eine Rolle, denn in unmittelbarer Nähe des alten AKW verlaufen wichtige Stromtrassen, die vor allem den Westen der Ukraine versorgen. Aber auch eine 750 Kilovolt-Leitung Richtung Osten und Russland.
Abgesehen von solchen Erwägungen ist es mutmaßlich ohnehin sicherer, dass ein derart sensibles Gelände in Kriegszeiten bewacht wird. Allerdings teilt die zuständige ukrainische Behörde mit, sie messe deutlich erhöhte Strahlenwerte. Wegen der Lage und der Kämpfe sei es aber unmöglich, einen Grund für diesen Anstieg zu erkennen. Im 1200 Kilometer entfernten Prag heißt es, alle Radioaktivitätsmesswerte seien im normalen Bereich. Aufgrund der Witterungsverhältnisse zum GAU-Zeitpunkt 1986 zählte die damalige Tschechoslowakei zu den am stärksten betroffenen Gebieten. Bis heute sind Wildschweine aus dem Böhmerwald und viele in der Natur gesammelte Pilze leicht radioaktiv belastet.
Experten rechnen derzeit nicht mit einer Gefährdung weiter entfernter Gebiete. Eine Aufwirbelung radioaktiver Stoffe sei zwar denkbar, eine ernsthafte Kontamination mit Radionukliden außerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone aber unwahrscheinlich.
Quellen: DPA, AFP, Google Maps, Entsoe (PDF)