Der Verzicht auf die eigentlich anstehenden Präsidentschaftswahlen in der Ukraine würde nach Einschätzung des Sicherheitsexperten Christian Mölling die demokratische Legitimation von Amtsinhaber Wolodymyr Selenskyj nicht schwächen. Mölling sagte am Dienstag im stern-Podcast "Ukraine – die Lage", er sehe keine Anzeichen dafür, dass sich in der Ukraine ein autokratisches System etabliere. Unter den Bedingungen von Krieg, Besetzung und Bevölkerungsaustausch wäre eine wirklich aussagekräftige Wahl in der Ukraine zur Zeit unmöglich. Die von Selenskyj gewünschte Verschiebung der eigentlich im März 2024 vorgesehenen Wahl sei auch rechtlich unproblematisch. "Die ukrainische Verfassung sagt ganz klar, dass das im Kriegsfall eben nicht geht", erklärte der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Verzicht auf Wahlen kein Ende der Demokratie in Ukraine
Mölling äußerte sich kritisch zur Fixierung auf Wahlen als Ausdruck demokratischer Verhältnisse. Dies sei "genau die Falle, in die wir in den letzten 30 Jahren beim liberalen Interventionismus gefallen sind". Die Vorstellung sei gewesen, man müsse nur die Lage stabilisieren, Wahlen abhalten und dann gehe es demokratisch zu. "Das hat nicht geklappt, weil Demokratie etwas ist, das im Alltag gelebt werden muss." So wie Wahlen allein in Möllings Sicht kein Ausdruck von Demokratie sind, so ist der zweitweise Verzicht darauf keineswegs gleichbedeutend mit dem Ende der Demokratie. Mölling sagte: "Dreht man das um, muss man fragen: Glauben wir, dass die Ukraine ein nichtdemokratischer Staat ist, nur weil sie zur Zeit keine Wahlen hat?" Das sei eben nicht der Fall.
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Der Experte warnte davor, zu einfache Vergleiche zwischen den Konflikten im Nahen Osten und in der Ukraine zu ziehen. "Das hat enorme Schwierigkeiten, was die Trennlinien und die Schärfe der Kategorien angeht", sagte er. "Ich kann versuchen, das ganz allgemein zu betrachten – dann tue ich allen eigentlich Unrecht." Er betonte, es sei legitim und richtig, nach Verletzungen des Kriegsvölkerrechts durch israelische Soldaten zu fragen. Das Kriegsvölkerrecht sei kein "Kriegsverhinderungsrecht", sondern gebe den Entscheidern eine Art Checkliste an die Hand, um zu überprüfen, ob sie genug getan hätten, um etwa die Folgen ihrer Maßnahmen für die Zivilbevölkerung zu minimieren.
Es gehe um Verhältnismäßigkeit. Wichtig sei bei der Bewertung von Verstößen, ob diese systematisch eingesetzt würden. "Befördert der Staat den Verstoß gegen Kriegsvölkerrecht als Mittel des Krieges oder nicht?", fragte Mölling mit Blick auf Israel und Russland. Und fügte hinzu: "Dann findet man den Unterschied." Bei den israelischen Streitkräften gebe es eben "keine systematische Freigabe, in der Mord, Vergewaltigung und Verschleppung – wie bei der russischen Armee – ein gewolltes Mittel des Krieges sind". Niemand käme etwa auf die Idee, palästinensische Kinder nach Israel zu verschleppen.