Podcast "Ukraine – die Lage" Militärexperte rechnet nicht mit russischem Mordkomplott gegen Selenskij

Der Kreml in Moskau
Der Kreml in Moskau: "Der PR-Schaden, der aus einem weiteren Misslingen entstehen würde, wäre wahnsinnig groß. Es wäre ein Zeichen von Schwäche"
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Der Abschuss einer angeblich ukrainischen Drohne über dem Kreml wird die russische Führung nicht zu einer Vergeltungsaktion veranlassen, glaubt Sicherheitsexperte Christian Mölling. Das Risiko des Scheiterns wäre für Putin viel zu groß.

Nach dem Abschuss einer Drohne über dem Kreml wird die russische Führung nach Einschätzung des Sicherheitsexperten Christian Mölling nicht versuchen, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij zu töten. "Ich sehe das zur Zeit mehr als eine Rhetorik, als dass daraus eine Kommandooperatioin russischer Spezialkräfte wird", sagte Mölling am Donnerstag im stern-Podcast "Ukraine – die Lage" zu Drohungen aus dem Umfeld des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er erinnerte daran, dass die Russen bereits zu Beginn des Krieges vergeblich versucht hätten, die politische Führung in Kiew auszuschalten. "Der PR-Schaden, der aus einem weiteren Misslingen entstehen würde, wäre wahnsinnig groß. Es wäre ein Zeichen von Schwäche", erläuterte der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Selenskij und seine Vertrauten würden permanent geschützt und seien nur schwer zu treffen.

Herkunft der Drohne weiter unklar

Mölling sagte, bislang sei unklar, wer für den mutmaßlichen Drohnenanschlag auf den Kreml verantwortlich sei. Falls die Ukraine – wie von Russland behauptet – der Drahtzieher sei, wäre dies "eine Form von Machtdemonstration". Die Botschaft laute dann: "Wir schaffen es auch, die Hauptstadt und das Machtzentrum, den Kreml, zu treffen." Er verwies darauf, dass es auch in der Vergangenheit schon ukrainische Angriffe tief in Russland gegeben habe, etwa auf einen Flugplatz für strategische Bomber. "Auch das war ein klares Signal: Ihr könnt euch nicht sicher sein."

Die Aktion in Moskau war nach Möllings Einschätzung aber wohl ungeeignet, Putin zu töten. Die Sprengkraft sei angesichts der Größe des abgeschossenen Geräts mutmaßlich gering, zudem sei Putin nicht in unmittelbarer Nähe gewesen. "Der Mann übernachtet nicht in dieser Kuppel", sagte Mölling. Der Experte hielt es auch nicht für wahrscheinlich, dass der Westen die Unterstützung für die Ukraine überdenkt, wenn sie sich als Verursacher des Angriffs herausstellen sollte. "Das Arsenal der Ukraine, was solche Drohnen angeht, ist wahrscheinlich nicht unheimlich groß", sagte er. Eine Welle solcher Attacken oder gar eine permanente Bedrohung des Kremls sehe er nicht. "Die Frage stellt sich, wie Washington darauf reagiert", räumte er ein. "Aber auch das ist eine Frage von Verhältnismäßigkeiten." Angesichts der knappen Ressourcen der Ukraine und dem umfassenden Schutz Putins hielt er es nicht für plausibel, von einer "systematischen Intention" zur Ermordung des russischen Präsidenten auszugehen.

Aktion ohne Beteiligung von Regierungen?

Nicht ausschließen wollte Mölling, dass die Aktion ohne Wissen der Regierung in Kiew abgelaufen ist, aber durchaus den Zweck hatte, die Verwundbarkeit des russischen Regimes vorzuführen – und zwar gerade vor den anstehenden Feiern zum Jahrestag des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai. "Es wäre möglich, dass es entweder russische Aktivisten waren oder Leute, die sich der Ukraine nahe fühlen und da eine eigene Aktion gestartet haben", sagte er.

Moskaus Propaganda reagiert schnell

Als weitere Option bliebe eine Inszenierung durch Moskau. Ein vorgetäuschter Angriff auf das eigene Machtzentrum ließe sich für die Propaganda nutzen. Dies setze aber voraus, dass Russland zu der Einsicht gelangt sei, dass man die eigene Verwundbarkeit "in eine Stärke umwandeln kann, weil man glaubt, dass dadurch eine Motivation und eine Mobilisierung entstehen kann". Aus dem Vorfall ließe sich ableiten, dass sich nun alle Russen hinter Putin versammeln müssten und jedes Mittel erlaubt sei, um der Bedrohung zu begegnen. Auch im Ausland könne eine solche Propaganda Vorteile bringen. Dabei sei das primäre Ziel nicht die Ukraine, sondern "die westlichen Gesellschaften, denen man so subkutan sagen kann: Irgendwie haben die Russen schon das Recht, da jetzt nochmal nachzulegen. Die Ukrainer sind ja auch nicht anders." Er fürchte, dass ein solches Kalkül sogar aufgehen könne. Auch wenn die Urheberschaft weiter unklar sei, stehe bereits jetzt fest, dass die Moskauer Führung das Ereignis geschickt genutzt habe: "Ob der Kreml diese Drohne dahingeflogen hat oder nicht, ist die eine Frage. Er hat aber sehr schnell geschaltet."

tis