Unabhängigkeitsbestreben Tote bei Protesten in Tibet

Angespannte Situation in Tibet: Bei schweren anti-chinesischen Protesten hat es laut Augenzeugenberichten mindestens zwei Tote und viele Verletzte gegeben. Die EU und die USA appellieren an China, auf Gewalt zu verzichten. Auch der Dalai Lama zeigt sich "tief beunruhigt" und ermahnt die Regierung zur Zurückhaltung.

Bei den schwersten antichinesischen Protesten in Tibet seit knapp zwei Jahrzehnten hat es laut Augenzeugenberichten Tote und Verletzte gegeben. Wütende Tibeter verwüsteten in der Hauptstadt Lhasa die Läden von chinesischen Besitzern und setzten sie in Brand. Auf dem Platz vor dem Jokhang-Tempel in der Altstadt seien Polizisten und Feuerwehrleute attackiert worden, ihre Fahrzeuge umgestürzt und angesteckt worden.

"Die Polizei hat in die Menge geschossen", berichteten Augenzeugen dem US-amerikanischen Sender Radio Free Asia (RFA). "Es gab Schüsse und Tote", sagte eine andere Quelle. Ein Augenzeuge habe zwei Leichen am Barkor genannten Pilgerweg um den Jokhang-Tempel in der Altstadt gesehen. Ein Großaufgebot von Soldaten setzte eine Ausgangssperre durch.

Mönche schnitten sich die Pulsadern auf

Aus Protest gegen die chinesische Fremdherrschaft unternahmen zwei Mönche einen Selbstmordversuch, indem sie sich die Pulsadern aufschnitten, wie der Sender RFA berichtete. Ihr Zustand galt als "kritisch". Eine genaue Zahl der Opfer gab es nicht. Die chinesische Staatsagentur Xinhua sprach nur von Verletzten.

Angesichts der Eskalation rief der Dalai Lama die chinesische Regierung und die Demonstranten zur Gewaltlosigkeit auf. Das religiöse Oberhaupt der Tibeter zeigte sich im Exil im nordindischen Daharamsala "tief beunruhigt". Die zunächst friedlichen Proteste seien "Ausdruck des tief verwurzelten Ärgers des tibetischen Volkes" unter der chinesischen Regierung. Seine Landsleute bitte er dringend darum, den Ausweg nicht in der Gewalt zu suchen.

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Tibet liegt auf einem Hochplateau nördlich des Himalaya. Der einst selbstständige Staat wird von China als sogenannte Autonome Region Tibet verwaltet. Seit der Besetzung im Jahr 1950 wehrt sich das Volk gegen die chinesische Fremdherrschaft. Ihr Versprechen, das politische System sowie die religiöse und kulturelle Identität des Landes zu respektieren, hielten die neuen kommunistischen Führer in Peking nicht.

1959 schlug China einen Volksaufstand nieder. Das religiöse Oberhaupt der Tibeter, der Dalai Lama, flüchtete ins indische Exil. Die chinesischen Truppen zerstörten zahlreiche buddhistische Klöster. Viele tausend Tibeter starben durch Folter, Haft und Hungersnöte. 1965 bildeten die Chinesen die Autonome Region, die nur noch halb so groß ist wie das alte Siedlungsgebiet. Die übrige Hälfte schlugen sie verschiedenen Provinzen zu.

Das "Dach der Welt" ist eine der abgeschiedensten Regionen der Erde. Das rund 1,2 Millionen Quadratkilometer große, dünn besiedelte Gebiet ist von gewaltigen Gebirgsmassiven umgeben. Der südliche Landesteil liegt im Himalaya. Die vorherrschende Religion unter den schätzungsweise 2,6 Millionen Bewohnern ist der Lamaismus, eine Variante des Buddhismus. Das einstige buddhistische Königreich entwickelte sich vom 15. Jahrhundert an zu einem Mönchsstaat mit dem Dalai Lama als Gottkönig und Lhasa als Hauptstadt.

Der heutige Dalai Lama ist der vierzehnte. Nach seiner Flucht 1959 haben viele Tibeter das Land verlassen. Die Verbliebenen drohen durch die systematische Ansiedlung von Chinesen zur Minderheit zu werden. Die meisten Tibeter sind arm. Ihre wichtigsten Erwerbsquellen sind Tierhaltung und Ackerbau.

EU und USA setzen sich für Dialog ein

US-Präsident George W. Bush setzt sich für einen Dialog der chinesischen Führung mit dem Dalai Lama ein. Das Weiße Haus erwarte von Peking, die Kultur der Tibeter und die Unterschiedlichkeit der Volksgruppen in der chinesischen Gesellschaft zu respektieren, sagte ein Sprecher in Washington. Das Auswärtige Amt in Berlin und die US-Regierung rieten von Reisen nach Tibet ab. Die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, Louise Arbour, rief die Führung in Peking zur Zurückhaltung auf. China müsse den Tibetern ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Demonstrationen gewähren, hieß es in einer in Genf verbreiteten Erklärung.

Die Ausschreitungen - fünf Monate vor den Olympischen Spielen in Peking - sind der vorläufige Höhepunkt der Proteste anlässlich des Jahrestages des 1959 niedergeschlagenen Aufstandes gegen die chinesische Fremdherrschaft. Seit Montag hatten sich die Proteste auf mehrere Klöster in der Region Tibet und auch in den Provinzen Qinghai und Gansu ausgeweitet, wie exiltibetische Gruppen berichteten.

Die Mönche protestierten gegen die chinesische Einmischung in religiöse Angelegenheiten und die "patriotische Erziehung" in den Klöstern. Mehrere Mönche sprachen sich bei einer Aktion in Lhasa auch direkt für eine Unabhängigkeit Tibets aus. Erstmals seit 20 Jahren wurde dabei wieder eine tibetische Flagge in Lhasa geschwenkt.

Es herrscht Chaos

Zuletzt hatte Tibet 1989 schwere Unruhen erlebt, die der damalige Parteichef der Region und heutige Staats- und Parteichef Hu Jintao mit Gewalt niederschlagen ließ. Mehrere Menschen waren damals ums Leben gekommen. Auslöser der gewalttätigen Unruhen am Freitag war offenbar das Vorgehen der Polizei gegen einen unerwarteten Marsch von Mönchen eines kleinen Klosters durch das Zentrum der Stadt.

"Es herrscht Chaos", berichtete eine Augenzeugin aus Lhasa. "Die Menschen hatten Stöcke und Steine in den Händen und rannten damit auf die Polizisten los." Die Polizeikräfte hätten zunächst vor der aufgebrachten Menge zurückweichen müssen. Auf am Boden liegende Feuerwehrleute hätten Demonstranten eingetreten und eingeprügelt.

Wie Radio Free Asia ergänzte, liefen Demonstranten laut Augenzeugen mit den traditionellen weißen Schals der Tibeter durch die Straßen und riefen "Befreit Tibet". Die Straßen seien gesperrt worden, so dass Angestellte in Bürohäusern feststeckten. "Niemand darf sich mehr durch Lhasa bewegen." Die drei großen Klöster seien umstellt worden. Zahlreiche Mönche traten aus Protest in einen Hungerstreik.

Demonstranten trampeln auf chinesischer Flagge

Die Ausschreitungen konzentrierten sich zunächst auf den Platz vor dem berühmten Jokhang-Tempel und den Pilgerweg. Neben Mönchen seien auch Studenten und andere Tibeter auf dem Platz gewesen, als die Gewalt eskalierte, berichtete eine Augenzeugin. Die Demonstranten hätten die dort gehisste chinesische Flagge eingeholt. "Sie trampelten mit den Füßen auf der Fahne herum." Später wurde auch aus anderen Teilen der Stadt über Aktionen berichtet.

Bei einer antichinesischen Demonstration vor dem UN-Gebäude in New York wurden sieben Exil-Tibeter vorübergehend festgenommen. Einige von ihnen hätten versucht, sich gewaltsam Zutritt zum Hauptquartier der Vereinten Nationen zu verschaffen, sagte ein UN-Sprecher auf Anfrage. Dies sei nicht gelungen. Die Polizei habe im Anschluss sieben Männer wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt in Gewahrsam genommen. Zuvor hatten sich rund 100 Exil- Tibeter vor dem abgesperrten UN-Gelände versammelt. Sie hielten tibetische Fahnen hoch und riefen in Sprechchören Slogans wie "Freiheit für Tibet!", "Stoppt das Morden!" oder "China raus aus Tibet!"

DPA
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