Als wir reden, ist es in Deutschland schon Donnerstagmorgen, in Kalifornien noch Mittwochabend. Jan Nemec begleitet in dem Westküsten-Staat die Midterms. Der 42-jährige Tscheche ist Politikwissenschaftler und forscht an der Universität Leipzig zu Rechtsstaatlichkeit in Ostmitteleuropa. Dem stern erzählt er im Interview von seinen Eindrücken aus den USA. Wir duzen uns, weil wir uns kennen.
Wie hast du den Wahltag am 8. November erlebt?
Wir haben die Stimmung in Kalifornien als recht entspannt und ausgelassen erlebt. Wählen wird hier als Event zelebriert. Wer gewählt hat, kriegt einen Aufkleber, auf dem "I voted" steht. Die Verantwortlichen möchten das Wählen attraktiv machen.
Also keine Schreckensszenarien von gewaltbereiten Trump-Trupps, die Wählerinnen und Wähler vor den Wahllokalen beeinflussen oder bedrängen?
Nein, davon haben wir überhaupt nichts mitbekommen. Auch die rote Welle, von der im Vorfeld die Rede war, blieb aus. Es ist eher eine pinke. Die Republikaner haben dazu gewonnen, aber die Unterstützung durch Trump hat den Kandidaten nicht so viel gebracht, wie sie sich erhofft hatten. Was lokale Wahlbeobachter angeht, haben wir festgestellt, dass es mehr Republikaner als Demokraten waren.
Das musst du erklären.
Bürgerinnen und Bürger können sich im Vorfeld anmelden, um die Wahl zu beobachten. Eigentlich ähnlich wie das, was wir als internationale Wahlbeobachter machen. Da ist uns aufgefallen, dass dieses Angebot eher Sympathisanten und Vertreter der republikanischen als der demokratischen Partei wahrnehmen.
Was war deine Rolle als internationaler Wahlbeobachter am Wahltag?
Ich war gemeinsam mit meiner Kollegin in acht verschiedenen Wahllokalen. Wir waren in Sacramento County, das eher demokratisch geprägt ist, und in Placer County an der Grenze zu Nevada, das eher republikanisch geprägt ist. Wir haben mit Wählerinnen und Wählern und Wahlhelferinnen und Wahlhelfern gesprochen und bis Mitternacht auch die Auszählung und den Transport der Wahlzettel verfolgt.
Wahlbeobachter bei den Midterms 2022: "Die Stimmung wirkte manchmal fast familiär"
Ist euch dabei etwas Bestimmtes aufgefallen oder hat euch etwas überrascht?
Bei den Ergebnissen gab es wenig Überraschendes: Kalifornien bleibt eine Hochburg der Demokraten. Ich fand auffallend, wie gut die Stimmung war. Die Wahlhelfer und Organisatoren der Wahllokale machen das teils seit Jahrzehnten. Sie sind Profis. Die Wählerinnen und Wähler kennen sie. Die Stimmung wirkte manchmal fast familiär. Und ich fand auffallend, wie lässig die Leute gekleidet sind. In manchen Ländern machen sich die Menschen schick am Wahltag, weil es ein besonderer Tag ist. Hier kamen viele in Jogginghosen.
Wie viele Wahlbeobachter seid ihr in den USA?
In Washington ist ein Team aus 17 Leuten, das Kernteam, darunter sind acht Analysten für Bereiche wie Kampagnenfinanzierung oder Medien. Zusätzlich sind 40 weitere Wahlbeobachter in Zweierteams in verschiedenen Staaten unterwegs. Ich bin gemeinsam mit einer Kollegin aus Serbien für Kalifornien zuständig. Dass wir als internationale Wahlbeobachter hier sind, ist keine Selbstverständlichkeit. In rund 15 US-Bundesstaaten ist das nicht erlaubt. Das wird auch immer wieder kritisiert.
Ihr seid bereits seit Anfang Oktober in Kalifornien. Was waren eure Aufgaben in den Wochen vor der Wahl?
Wir waren viel unterwegs und in verschiedenen Städten und Regionen des Bundesstaates, zum Beispiel in San Francisco, Los Angeles, San Diego, Sacramento und im Central Valley. Wir haben die Wahlkampagnen beobachtet und einen Fokus darauf gelegt, wie unabhängig die Wahlen ablaufen. In Kalifornien wählte ein Großteil der Menschen schon vor dem 8. November per Briefwahl. Wir haben mit lokalen Politikerinnen und Politikern gesprochen, mit Journalistinnen und Journalisten und mit professionellen Wahlhelferinnen und Wahlhelfern, die das Ganze organisieren, was in der Regel ein Vollzeitjob ist.
Und zu welchen Schlüssen seid ihr gekommen?
Eine Bewertung darf ich nicht abgeben. Das darf nur der Chef der Mission. Aber ich kann sagen, dass wir auf eine ziemlich gespaltene Gesellschaft gestoßen sind. Kandidaten beider Parteien stellen die der jeweils anderen als eine Bedrohung für die Demokratie dar. Und es gibt laute, spaltende Stimmen, die Misstrauen in den Ablauf dieser Wahlen streuen. Es kursierten vor der Wahl viele Verschwörungstheorien zum Beispiel im Zusammenhang mit der Auszählung. In Kalifornien werden zwei oder drei Prozent der Stimmen manuell ausgewertet, alles andere machen Maschinen. Da ist ein großes Misstrauen da. Die Fronten zwischen Demokraten und Republikanern sind verhärtet. Bei den Wahlhelferinnen und Wahlhelfern ging es zum Beispiel auch darum, zu schauen, ob ihre Parteipräferenz ihre Arbeit beeinflusst und wie sie es schaffen, in diesem Klima zu arbeiten.
Wie willkommen habt ihr euch gefühlt, als ihr diese Menschen zu Gesprächen getroffen habt?
Die Leuten waren super offen und sehr nett. Sie wollten uns alles zeigen und erklären. Man merkte, dass sie stolz sind auf ihr Wahlsystem und die Geschichte ihrer Demokratie. Gleichzeitig wissen viele nicht, was die OSZE ist und wir mussten viel über unsere Rolle und Aufgabe erklären.
In Kalifornien wurde zwei Wochen vor der Wahl der Mann von Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi im Haus der Familie in San Francisco mit einem Hammer attackiert. Wie hat dieser Angriff den Wahlkampf beeinflusst?
Wir waren ganz überrascht, wie wenig er thematisiert wurde – weder von Demokraten noch von Republikanern. In den sozialen Medien war der Angriff hingegen ein großes Thema, häufig in Zusammenhang mit Verschwörungstheorien. Aber von offizieller Seite kam wenig dazu.
Was waren die großen Themen in diesem Wahlkampf?
Die steigenden Energiekosten, die Inflation, die wirtschaftliche Lage allgemein. Auch Wasserknappheit ist ein großes Thema, vor allem im Central Valley, das stark landwirtschaftlich geprägt ist. Abtreibung ebenfalls, weil es hier in Kalifornien eine Abstimmung dazu gab. Das Recht auf Abtreibung soll jetzt in der Verfassung des Staates verankert werden. Überhaupt gab es neben den nationalen Wahlen hier in Kalifornien auch noch etliche auf Ebene des Bundesstaates und der Kommunen. Der Wahlzettel hier war unglaublich lang.
Wie kam es, dass du Wahlbeobachter wurdest?
Wir Wahlbeobachter haben ganz unterschiedliche Hintergründe: Ich bin Wissenschaftler, meine Kollegin hier in Kalifornien zum Beispiel arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation. Voraussetzung ist ein Hintergrund in den Bereichen Politik, Menschenrechte, Journalismus oder Ähnlichem. Ich war schon bei mehreren Wahlen für die OSZE und die EU im Einsatz. Meine erste war noch während meiner Doktorarbeit. Ich spreche Portugiesisch und hatte nach einer Möglichkeit gesucht, die Sprache einzusetzen. So kam es, dass mich mein erster Einsatz zu Wahlen für zwei Wochen nach Guinea-Bissau führte.
Die Midterms sind jetzt vorbei, aber die Mission der OSZE dauert noch bis 17. November. Was macht ihr in dieser Zeit noch?
Meine Kollegin und ich bleiben bis 15. November in Kalifornien, dann fliegen wir zum Kernteam nach Washington und dann zurück nach Europa. Wir werden in dieser verbleibenden Woche weiterhin die Auszählungen beobachten und, ob Resultate angefochten werden. Wir werden auch noch einen Abschlussbericht für Kalifornien schreiben.
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Rechnet ihr damit, dass es noch zu rechtlichen Schritten gegen diese Wahlen kommen wird, zu Ausschreitungen oder anderen Problemen?
Wir haben ja nur die Wahlen auf der nationalen Ebene beobachtet. Ich denke, auf lokaler Ebene bei Bürgermeister- oder Sheriffwahlen könnte schon das ein oder andere Ergebnis angefochten werden. Solche Vorgehen sind im rechtlichen Rahmen.