Viktor Orban inszeniert sich gern als Anpacker. Die EU ist ihm seit Jahren ein Dorn im Auge, auch wenn er als Ministerpräsident Ungarns massiv von der Union profitiert. Für ihn ist Brüssel in erster Linie ein Bürokratieapparat, der sein Land mit immer neuen Richtlinien gängelt.
Nun sitzt Orban ausgerechnet diesem verhassten Bürokratie-Monster vor. In der vergangenen Woche übernahm Ungarn turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft. Viel erwartet hat man vom Enfant terrible Europas wohl nicht. Doch nach nur wenigen Tagen lädt er die ganze Welt zu seiner neuen Inszenierung ein: Viktor Orban – der Friedensmissionar.
1. Akt: Die Ukraine
Auf eigene Faust, ohne Absprache mit Brüssel, rief er seine selbsternannte "Friedensmission" aus. Orban, so will er offenbar vermitteln, ist der Einzige, der jetzt endlich einmal auf den Tisch haut und sich wirklich um Frieden zwischen der Ukraine und Russland bemüht. Frieden, so schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst X, werde nicht in bequemen Sesseln in Brüssel gemacht..
Am 2. Juli reiste er nach Kiew zu Gesprächen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj. Wohlgemerkt ohne Mandat der Europäischen Union. Sprechberechtigt im Namen der der EU ist er auf dem Papier nicht, sondern lediglich als ungarisches Staatsoberhaupt.
In Brüssel nahm man den Besuch zähneknirschend zur Kenntnis, wirklich negativ wollte sich aber niemand äußern. Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn gelten seit Jahren als angespannt. Thema des Treffens sei der "Frieden in Europa", wie Orban über seinen Regierungssprecher erklären ließ. Ob er Selenskyj erklären konnte, warum er regelmäßig die militärische Unterstützung der EU für die Ukraine hinauszögert, wird sein Geheimnis bleiben.
2. Akt: Russland
Den eigentlich Höhepunkt seiner Aufführung konnte die Welt dann einen Tag später bestaunen: Orban reiste weiter nach Moskau. Zum ersten Mal seit dem Angriff auf die Ukraine traf sich ein EU-Funktionär mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Und Brüssel, ja das gesamte politische Europa, kochte vor Wut. Spitzenpolitiker von Bundeskanzler Olaf Scholz bis hin zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen überschlugen sich mit Statements. Orban, da war man sich einig, spreche nicht für die EU. Er habe kein Mandat für die Reise nach Moskau und sei als Ratspräsident ohnehin nicht für auswärtige Angelegenheiten zuständig.
Putin dagegen begrüßte Orban im Kreml mit einem Schmunzeln und betonte, er wisse, dass Orban nicht nur als ungarischer Staatschef nach Russland gereist sei, sondern neuerdings auch den EU-Ratsvorsitz inne habe. Und natürlich nutzte Orban den Besuch bei seinem Busenfreund zur Werbung in eigener Sache. Er gefiel sich sichtlich in der Rolle des Superhelden – ein Möchtegern-James Bond der Diplomatie.
Der Besuch in Moskau war zugleich ein Seitenhieb gegen die EU und ein Zugeständnis an Putin. Auch ohne Mandat suggerierte Orban dem russischen Machthaber die europäische Gesprächsbereitschaft über Russlands Forderungen für einen Waffenstillstand. Und das über den Kopf der Ukraine hinweg.
Kurz nach seiner Abreise erklärte er der "Bild", die nächsten Monate des Ukraine-Kriegs würden viel brutaler als man es sich derzeit vorstelle. Nur wenige Stunden nach dem Statement verstärkte Moskau einmal mehr seine Raketenangriffe auf die Ukraine, bei dem unter anderem ein Kinderkrankenhaus getroffen wurde. Mindestens 30 Menschen starben.
3. Akt: China
So groß die Empörung über Orbans Alleingänge war, so groß war auch die Überraschung, dass er nach dem umstrittenen Besuch im Kreml direkt weiter nach Peking flog. China sei ein wichtiger Akteur, um Frieden in der Ukraine erreichen zu können, so Orban. In der Tat präsentiert sich China im Ukraine-Krieg vordergründig neutral, unterhält dabei aber weiterhin enge wirtschaftliche Beziehungen mit Moskau und verweigert sich allen Bemühungen des Westens, den Kriegstreiber Putin ins diplomatische Abseits zu stellen.
Mit einem weiteren Seitenhieb auf Brüssel erklärte Orban im Anschluss, sein Ziel sei ein Waffenstillstand und Frieden, jetzt sei der richtige Zeitpunkt, um von einer "Kriegs- zu einer Friedenspolitik" zu kommen. Peking rief im Anschluss ebenfalls zu direkten Friedensverhandlungen zwischen Moskau und Kiew auf.
Viktor Orbans "Friedensmission": ein erster Schritt oder Ego-Trip?
Was bleibt am Ende von Orbans Alleingang in Sachen Ukraine-Krieg? Friedensforscherin Nicole Deitelhoff, Chefin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main, erklärte bei ntv.de: "Wirklich ernst nehmen muss man diese Initiative nicht. Er macht diese Reisen, um seine Agenda der guten Beziehungen zu Russland und China voranzutreiben. Das kommt vor allem ihm zugute – sowohl bei seinen Anhängern als auch mit Blick auf die Beziehungen zu den beiden Autokratien."
Er werde mit seinen Besuchen nicht den Frieden bringen, hatte Orban schon zu Beginn seiner Reisen betont. Dennoch wird bei vielen das Bild hängen bleiben, das der ungarische Ministerpräsident von sich selbst gezeichnet hat: das eines Machers, der die Sache endlich in die Hand nimmt, weil die Fachidioten in Brüssel es ja nicht hinkriegen. Dass Orban damit das Narrativ von Putin übernimmt, Russland könne den Krieg nicht verlieren und die besetzten Gebiete seien ohnehin verloren, ignoriert er dabei beziehungsweise nimmt es billigend in Kauf. Diplomatisch hat Orban in den vergangenen Tagen sicherlich für einige Bewegung in der Weltpolitik gesorgt. Ob sich damit tatsächlich etwas in Richtung Frieden bewegt, wird sich zeigen.