Cambridge-Report Zwischen Kriegsangst und Regimekritik: Was Google-Trends über die politische Haltung der Russen verraten

Bürger Russland
Menschen gehen durch die Straßen in Moskau
© Artem Priakhin / Imago Images
In Russland stehen alle geeint hinter Wladimir Putin und dem Angriffskrieg auf die Ukraine – oder? Britische Forscher haben mithilfe von Suchmaschinen ein politisches Stimmungsbild entworfen. Eines, das russischen Meinungsumfragen widerspricht.

Was denken die russischen Bürger über den Kreml und den Angriffskrieg auf die Ukraine? Traut man den Zahlen russischer Meinungsforschungsinstitute, dann ist die Unterstützung in der Bevölkerung groß. Knapp 81 Prozent vertrauen Kreml-Chef Wladimir Putin, die Unterstützung für politische Institutionen und den Krieg in der Ukraine soll ungebrochen hoch sein. Jeden Monat veröffentlichen die russischen Meinungsforschungsinstitute Vicom und Levada aktuelle Zahlen zur politischen Haltung der Bevölkerung. Doch die Statistiken sind umstritten. Spätestens seit Moskau in Kiew eingefallen ist, stellt sich die Frage, wie verlässlich die Daten überhaupt noch sind. Denn selbst wenn sie nicht manipuliert sind, bleibt unklar, ob die Befragten sich noch trauen zu sagen, was sie denken.

Ein britisches Forscherteam der Universitäten Cambridge und Surrey hat einen Weg gefunden, ein möglicherweise verlässlicheres Stimmungsbild zu erhalten. Dafür analysierten die Wissenschaftler das Online-Suchverhalten der russischen Bürger. Anhand von Daten zu Suchtrends von Google und der niederländisch-russischen Suchmaschine Yandex aus den Jahren 2012 bis 2023 zeigen die Forscher, dass die Stimmung im Land bis vor Kriegsbeginn mit den Daten der russischen Meinungsforschungsinstitute übereinstimmte. Doch seitdem ist die Kluft zwischen Meinungsumfragen und tatsächlicher Stimmung immer breiter geworden. Laut Umfragen soll die Unterstützung für den Kreml-Chef gestiegen sein, die Lebenszufriedenheit der Russen einen neuen Höchststand erreicht haben. Der ehemalige Leiter des Meinungsforschungsinstituts Levada räumte allerdings im März 2022 im österreichischen Sender ORF ein, dass "die nackten Zahlen (...) für sich allein genommen" wenig aussagen.

Online-Suchdaten halten die britischen Forscher für ein "leistungsfähiges Instrument, um Rückschlüsse auf die Überzeugungen und Einstellungen der nationalen Bevölkerung zu ziehen". So konnten die Wissenschaftler unter anderem nachweisen, dass die Begeisterung für den Krieg in der russischen Bevölkerung begrenzt ist. Und dass sich die öffentliche Moral und das Wohlbefinden auf dem niedrigsten Niveau der letzten Dekade bewegen.

Russland zwischen Stimmungstief und Systemkritik

In ihrer Studie verfolgten die Forscher, welche Begriffe besonders häufig in die Suchmaschinen eingetippt wurden. Fragen wie "Wie viel kostet eine Nierentransplantation?" ließen demnach auf die wirtschaftliche Lage der Bürger schließen. Und die ist nicht so schlecht, wie durch die westlichen Wirtschaftssanktionen erhofft. Der Schock beschränkte sich auf das Frühjahr 2022, mittlerweile haben sich sowohl Unternehmen als auch Konsumenten und Privathaushalte wieder von dem finanziellen Schock erholt.

Anders sieht es beim allgemeinen Wohlbefinden der Russen aus. Suchbegriffe wie "Depression", "Schlaflosigkeit" und "Alkoholismus" zeigen, dass die Zufriedenheit seit Kriegsbeginn kontinuierlich gesunken ist. Zwar verzeichnet die Untersuchung in den ersten beiden Kriegswochen einen leichten Stimmungsaufschwung, mit dem Kriegszensurgesetz, wonach die Invasion zur "Spezialoperation" wurde, fiel die Stimmung aber wieder. Im April dieses Jahres war die öffentliche Stimmung unter den Russen auf dem niedrigsten Stand seit der Invasion und nur geringfügig höher als der Tiefpunkt im Jahr 2021 während der schlimmsten Zeit der russischen Coronavirus-Krise, heißt es in der Studie.

Suchbegriffe Russland
Anhand bestimmter Suchbegriffe konnten die Forscher auf das Wohlbefinden, die finanzielle Lage und die politische Haltung der Bevölkerung schließen
© Screenshot Cambridge-Report

Mit der Stimmung im Land erodiert auch die politische Unterstützung für Kreml und Krieg. Die Regierung Putin bewegt sich dabei auf einem schmalen Grat. Zwar kann der Kreml-Chef für seine Truppen auf eine riesige Bevölkerung zurückgreifen, allerdings riskiert er gleichzeitig, dass die öffentliche Meinung kippt. "Gewöhnliche Russen denken eher kritisch über das Regime und suchen online nach Oppositionsbewegungen, wenn die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie oder ihre Angehörigen in den Kampf geschickt werden", so Co-Autorin Roula Nezi in einer Mitteilung.

Besonders deutlich wird das am Beispiel der Massenmobilisierung im September 2022: In dieser Phase stieg der "stillschweigende Dissens". Dafür stehen Suchanfragen über Google und Yandex. In Zeiten militärischer Rückschläge beschäftigen sich die russischen Bürger vermehrt mit Antikriegsbewegungen. In den Suchmaschinen tauchten dann auch Anti-Putin-Ausdrücke wie "Putler" (Putin und Hitler) oder Kriegs- und Regimekritiker wie Boris Nemzow, Alexej Nawalny oder George Orwell auf.

"Dier Erkenntnisse zeigen, dass autoritäre Regime, die auf bürgerliche Passivität und Desengagement angewiesen sind, bei der Mobilisierung der Bevölkerung an ihre Grenzen stoßen." Militärisches Versagen sei ein Hauptrisikofaktor für autoritäre Regime. Gleichzeitig zeige sich die Angst der Russen, selbst zum Kriegsopfer zu werden. Je höher das Risiko, desto kritischer die Einstellung gegenüber Krieg und Regime. Seit Russland jedoch Soldaten im Gefängnis rekrutiere und Söldner an die Front sende, sei die kritische Stimmung wieder zurückgegangen.

Politische Haltung abhängig vom Kriegsverlauf

Online-Suchen stünden oft für innere Gedanken und Ängste, die Menschen nicht an die große Glocke hängen würden, heißt es in der Studie. "Solche Daten geben Einblicke in das öffentliche Bewusstsein in repressiven Staaten, wo die Wahrheit von einem Nebel aus Angst und Desinformation versteckt wird", resümieren die Wissenschaftler. Sie gehen davon aus, dass das allgemeine Wohlbefinden und die Einstellung gegenüber der Regierung maßgeblich vom Kriegsverlauf beeinflusst werden. Umgekehrt kann Putin nur begrenzt darauf setzen, dass sich seine Bürger freiwillig an die Front begeben.