Washington Memo Tarnadresse: "Postfach 1142"

  • von Katja Gloger
Sie wissen, wie man mit Verbrechern umgehen muss: Im Zweiten Weltkrieg verhörten sie in einem geheimen Lager unweit Washingtons die Elite deutscher Kriegsgefangener. Nach 60 Jahren trafen sich die Verhörspezialisten erstmals wieder - ihr Treffen geriet zu einer Demonstration gegen George W. Bush.

Er war jung, wie die meisten in seiner Einheit, gerade mal 21 Jahre alt. Auch Henry Kolm wollte die Deutschen besiegen - und vielleicht hätte er mehr als Andere Grund gehabt, nach Rache zu suchen. Henry Kolm kam aus Wien, er war erst seit wenigen Jahren in den USA. Die Nazis hatten seine Eltern enteignet, 1939 glückte ihm in letzter Minute die Flucht vor Hitlers Schergen. Doch viele seiner Angehörigen wurden im Holocaust ermordet. Dann wurde Kolm an die Front im Krieg gegen Deutschland abkommandiert - und er landete in einem Vorort von Washington. Er kam nach Fort Hunt. An einen Ort, von dem niemand etwas wissen sollte.

Das weitläufige Gelände einer ehemaligen Festung, idyllisch am Potomac-Fluss gelegen. "Offiziersschule" stand am schwer bewachten Eingang. "Postfach 1142, Alexandria, Virginia" lautete die offizielle Adresse. Elektrozäune, Baracken. Swimming Pool und Golfplatz für die Offiziere. Und regelmäßig fuhren Busse mit abgedunkelten Scheiben vor.

Unterirdische Informationssuche

"P.O. Box 1142" war eine Tarnadresse. Seit 1942 lief hier eine top-secret Operation des US-Militärgeheimdienstes MIS unter dem Kürzel "MIS-Y". Gerade mal 17 Kilometer südlich des Weißen Hauses verbarg sich in Fort Hunt ein Lager für deutsche Kriegsgefangene. Noch nicht einmal das Internationale Rote Kreuz wusste von seiner Existenz. Denn Fort Hunt war ein Lager für besondere Gefangene. Hier wurden von 1942 bis 1946 hochrangige Militärs und Wissenschaftler des Nazi-Regimes verhört. Man brauchte Informationen über den deutschen U-Boot-Krieg ebenso wie über das mysteriöse deutsche Raketen-Programm mit dem Kürzel "V". Man suchte Fakten über mögliche Atombombenpläne ebenso wie Standorte von Industrieanlagen für die geplanten Bombardierungen deutscher Städte. Nach Fort Hunt kamen Männer wie Generaloberst Hans-Jürgen von Arnim, der 1943 in Afrika kapituliert hatte. Dutzende hochrangige Wissenschaftler wurden über Wochen in den unterirdischen Räumen von Fort Hunt verhört. Und Nazi-Spionagechef Reinhard Gehlen verbrachte gleich zehn Monate dort.

Katja Gloger

Die US-Hauptstadt ist ein politisches Haifischbecken, in dem getuschelt, geschmiedet, verschworen und gestürzt wird. Mittdendrin: Katja Gloger. Die stern-Korrespondentin beobachtet in ihrer Kolumne "Washington Memo" den Präsidenten und beschreibt die, die es werden wollen. Dazu der neueste Klatsch aus dem Weißen Haus und von den Fluren des Kongresses.

In Fort Hunt wurden die Männer verhört, die man in der Sprache der Bush-Regierung heute wohl als "high-value detainees" bezeichnen würde. Als Gefangene von ganz besonderem Wert. So wie die, die in den vergangenen Jahren in den geheimen Lagern der CIA verhört und - wie Viele vermuten - dabei auch gefoltert wurden.

Elitetruppe der "interrogators"

In Fort Hunt trafen die Kriegsgefangenen auf Männer wie Henry Kolm. Männer, die monatelang intensiv auf ihre Aufgabe vorbereitet worden waren. Die in der Regel perfekt Deutsch sprachen, viele von ihnen hatten studiert. Sie waren die "interrogators". Die Verhörexperten des US-Militärgeheimdienstes MIS; direkt dem Pentagon unterstellt. Eine Elitetruppe.

Die meisten schwiegen ihr Leben lang. Oft erfuhren noch nicht einmal ihre Ehefrauen von ihrem Einsatz für "Operation MIS-Y". So wurde Henry Kolm, heute 82, renommierter Professor an der MIT-Universität in Boston; sein Freund Arno Mayer, 81, lehrte Geschichte in Princeton. Der gebürtige Wiener Peter Weiss, 81, auch er konnte als Jugendlicher in letzter Minute vor den Nazis fliehen, wurde Rechtsanwalt.

"Ein Stück verborgene Geschichte lebendig machen"

Jahrzehntelang blieben die Akten der "Operation MIS-Y" gesperrt, die letzten wurden erst in den 90er Jahren freigegeben. Die Baracken von Fort Hunt wurden abgerissen, das Gelände der US-Nationalparkverwaltung unterstellt. Heute trifft man sich hier zum Picknick mit Blick auf den Potomac. Und auch die wenigen überlebenden Veteranen der Operation MIS-Y wären wohl längst vergessen, wenn sich nicht ein paar Mitarbeiter der Nationalpark-Verwaltung auf Spurensuche begeben hätten. Vor allem der junge Park-Ranger Brandon Bies, 28, wurde zum engagierten Hobby-Historiker: Er suchte nach Veteranen, stieß im US-Nationalarchiv auf Hunderte Kisten mit Dokumenten. "Wir wollen ein Stück verborgene Geschichte lebendig machen", sagt er.

Und vor einem Monat trafen sich rund 20 Veteranen auf dem Gelände des ehemaligen Lagers - zum ersten Mal seit über 60 Jahren. Zu diesem Ereignis hatte das Pentagon eine hochoffizielle Danksagung geschickt. Darin war von Tradition und Pflichterfüllung die Rede - und auch von dem weltweiten Krieg gegen den Terror: "Diesen Krieg müssen wir gewinnen."

Und was passierte? Die meisten protestierten vehement gegen das Dankesschreiben. Wollen nicht als Rechtfertigung für die Methoden der Bush-Regierung herhalten. Denn die wende Folter-Methoden an, meinen die Veteranen, etwa beim so genannten waterboarding, dem Beinahe- Ertränken. "Wer foltert, verliert seine Menschlichkeit", sagt der Veteran George Frenkel, 87. "Man muss sich für die Menschenrechte engagieren", sagt der Rechtsanwalt Peter Weiss. "Sonst wäre ich ja auch nur ein Mitläufer."

Weder physischer noch psychischer Zwang

Weiterhin rechtfertigt Präsident Bush die Anwendung so genannter "erweiterter" Verhörmethoden mit den angeblich wertvollen Informationen, die man so erhält. Auch CIA-Chef Hayden rühmt die Erfolge des Geheimdienstes bei Verhören. Doch längst kommen Experten zu ganz anderen Urteilen: Systematische Informationsgewinnung existiert heute faktisch nicht. Die wichtigste Waffe im Krieg gegen den Terror ist stumpf. Die Verhörtechniken der CIA sind hoffnungslos veraltet - sie basieren vor allem auf den Praktiken der Sowjetunion aus den 50er Jahren. Oberst Steven Kleinman ist einer der wenigen ehemaligen Verhörexperten des US-Militärs, der die heutigen Praktiken öffentlich kritisiert: " Im Zweiten Weltkrieg war das Programm in Fort Hunt unglaublich effizient. Mit seiner Hilfe wurden entscheidende Informationen gewonnen. Und dies vor allem, weil die Verhörexperten persönliche Beziehungen zu den Gefangenen herstellen konnten. Weder physischer noch psychischer Zwang kann dies erreichen. Aus diesen Erfahrungen können wir viel lernen. Im Vergleich dazu sind alle unsere Anstrengungen im Krieg gegen den Terror amateurhaft."

Damals, im Krieg gegen Hitlers Deutschland, wurden die Vernehmer penibel ausgewählt. Sprach- und Landeskenntnisse waren Pflicht, Lektüre der Genfer Konvention ebenso. Sie bereiteten sich stundenlang auf Verhöre vor. Gewaltanwendung war streng verboten. "Wir erhielten mehr Informationen von einem deutschen General, wenn wir Schach oder Tischtennis mit ihm spielten als die heute mit ihrer Folter", empört sich Henry Kolm. "Was passiert wäre, wenn ich einen Gefangenen auch nur geschlagen hätte? Ganz einfach", sagt Peter Weiss, "ich wäre sofort vor ein Militärgericht gekommen."

Gewalt war verboten, Drohungen allerdings erlaubt

Gewalt war verboten, Drohungen allerdings erlaubt - auch wenn dies immer wieder gegen die Genfer Konvention verstieß: Manchmal zogen die Vernehmungsoffiziere Uniformen der gefürchteten Roten Armee an und drohten, den Gefangenen den Sowjets zu übergeben. Und als er bei der Befragung eines renitenten Waffen-SS-Mannes nicht weiterkam, ließ ihn sein Vernehmer in den Keller des Munitionsdepots werfen, schloss die Metalltür und rief: "Iwan, das Gas." Dann wurde eine stinkende Flüssigkeit in den kahlen Raum gesprüht. Außerdem hörte man die Gespräche der Gefangenen in ihren Zellen ab, zeichnete sie auf rote Vinylscheiben auf.

3400 Kriegsgefangene gingen durch Fort Hunt. Zunächst, ab 1942, waren es vor allem U-Boot-Besatzungen, die wertvolle Informationen über den U-Boot-Krieg im Nordatlantik lieferten. Dort liefen die Nachschublinien der USA. Später wurde auch die Besatzung des berühmten U-Bootes 234 nach Fort Hunt gebracht. U-234 hatte die wissenschaftlichen Schätze des Nazi-Regimes an Bord: ein zerlegtes Düsenflugzeug sowie Bauteile einer Rakete vom Typ V2, dazu Blaupausen der wichtigsten Waffenentwicklungen Deutschlands - und vor allem 560 Kilogramm Uranoxid, Rohstoff für die Atombombe. Im Mai 1945 war U-234 auf dem Weg nach Japan, als sich der Kapitän der US-Marine ergab.

Wissenschaftler erkauften sich ein neues Leben

Mit den meisten ihrer Gefangenen hatten die Verhörexperten leichtes Spiel. Denn ab Frühjahr 1945, als der Krieg verloren war, erkauften sich die Wissenschaftler des Nazi-Regimes ihr neues, gefälliges Leben in den USA. Freiwillig lieferten sie Informationen über das geheime "Vergeltungswaffen-Raketenprogramm", brachten die Blaupausen gleich mit. Operation "Paperclip", Büroklammer, nannte der US-Geheimdienst seine illegale Operation, mit der er ab September 1945 auch überzeugte Nazis und mutmaßliche Kriegsverbrecher - wie etwa der Mediziner Hubertus Strughold - in die USA schmuggelte. Geheimes Erkennungszeichen: Die Visaanträge, die mit einer Büroklammer versehen waren, wurden positiv beschieden.

Und Hunderte kamen. Wurden nach Fort Hunt oder auf die kleine Insel Long Island vor Boston gebracht. "Haus der Deutschen Wissenschaft" nannte man das dortige Verhörzentrum. Der berühmteste, der geschmeidigste unter ihnen war wohl Wernher von Braun, Leiter des Raketen-Programms in Peenemünde, Mitglied der NSDAP und Sturmbannführer der SS, ein Mitläufer, der von der Sklavenarbeit in den Tunneln von Mittelwerk mindestens wusste. 20000 KZ-Häftlinge starben beim Bau der unterirdischen Produktionsanlagen für die V2 Rakete. Doch seine Kenntnisse wollte man im beginnenden Kalten Krieg gegen die Sowjetunion unbedingt nutzen. Wernher von Braun wurde stets mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Später wurde er als Direktor der Nasa ein geachteter Bürger der USA.

Mit persönlichem Butler in Fort Hunt

In Fort Hunt ließ sich auch Generalmajor Reinhard Gehlen verhören. Der Leiter der Organisation "Fremde Heere Ost", der Nazi-Auslandsspionage, brachte gleich ganze Kisten voller Dokumente mit. Zehn Monate verbrachter er in Fort Hunt - es heißt, mit persönlichem Butler. Denn auch seine Informationen waren in der Auseinandersetzung mit Sowjetunion heiß begehrt. So begehrt, dass Reinhard Gehlen später erster Präsident des Bundesnachrichtendienstes BND wurde.

Doch kann man zum Selbstmord entschlossene Terroristen von heute mit den Kriegsgefangenen von damals vergleichen? Diese Frage stellen sich auch die Veteranen von Fort Hunt. "Heute hat man sicher mit Menschen zu tun, die man nicht erreichen kann", sagt Peter Weiss. "Sie sind wohl vollkommen undurchdringlich. Aber Folter kann man niemals rechtfertigen." Er sei immer noch stolz, ein Amerikaner zu sein. "Aber das, was in den vergangenen Jahren passiert ist, macht mich zutiefst beschämt. Heute liegt ein Schatten der Angst über Allem, was mit Amerika zu tun hat. Und Angst ist der größte Feind der Gerechtigkeit."