Politische Weichenstellung Gabriel Boric wird der jüngste Präsident in Chiles Geschichte sein – die Erwartungen an ihn sind groß

Politische Weichenstellung: Boric gewinnt Präsidentschaftswahlen in Chile
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Jubel bei den Anhängern des linksgerichteten Gabriel Boric nach den Stichwahlen in Chile. Boric wird der nächste Präsident des Landes. Er hat sich bei der Abstimmung am Sonntag gegen den Rechtspopulisten Antonio Kast durchgesetzt. Kast räumte seine Niederlage ein, nachdem Boric offiziellen Daten zufolge nach Auszählung von mehr als der Hälfte der Stimmen mit 54,72 Prozent in Führung lag. Da keiner der Kandidaten im November im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, kam es nun am 19. Dezember zur Stichwahl zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten. Die Wahlen fanden nach zwei Jahren teils gewalttätiger Proteste für mehr soziale Gerechtigkeit statt. In einer Rede nach seinem Wahlsieg versprach Boric, dass seine Regierung die sozialen Rechte der Menschen stärken werde: "Chilenen, ich nehme dieses Mandat mit Bescheidenheit und einem enormen Verantwortungsbewusstsein entgegen. Wir stehen vor einer enormen Herausforderung. Ich weiß, dass in den kommenden Jahren die Zukunft unseres Landes auf dem Spiel steht. Deshalb garantiere ich, dass ich ein Präsident sein werde, der sich um die Demokratie kümmert und sie nicht aufs Spiel setzt, der mehr zuhört, als er redet, der die Einheit sucht und sich täglich um die Bedürfnisse des Volkes kümmert. Ich werde entschieden gegen die Privilegien einiger weniger kämpfen und mich jeden Tag für die chilenischen Familien einsetzen." Der 35-jährige Boric wir der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles. Er hatte im Wahlkampf eine bessere Gesundheitsversorgung ausgesprochen. Außerdem setzte er sich für die Rechte von Minderheiten und für eine bessere Bildung ein. Er wurde von einem breiten Bündnis unterstützt, zu dem auch die Kommunisten gehören.
Im ersten Durchgang lag Ex-Studentenführer Boric noch knapp hinter Pinochet-Sympathisant Kast. Doch dann wendete sich das Blatt, Boric siegte mit unerwartet großem Abstand. Der Aufbruch alter Strukturen in Südamerikas Musterland dürfte nun weitergehen.

Der Sieg ist überraschend klar ausgefallen: Mit knapp 56 Prozent der Stimmen ist der frühere Studentenführer Gabriel Boric, 35, zum jüngsten Präsidenten in der Geschichte Chiles gewählt worden. Der deutschstämmige Rechtspopulist José Antonio Kast kam in der Stichwahl auf gut 44 Prozent. Nachdem er nach der Stimmabgabe noch angedeutet hatte, ein knappes Ergebnis eventuell nicht anzuerkennen, gratulierte Kast seinem Konkurrenten nach Bekanntwerden des Wahlausgangs am Sonntagabend unmittelbar zum Sieg.

Die Wahl galt aufgrund der gewaltigen politischen Kluft zwischen den beiden Kandidaten als Zäsur, vielen sogar als wichtigste Wahl seit Chiles Rückkehr zur Demokratie 1990. Insgesamt waren rund 15 Millionen Menschen wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag bei 55 Prozent, was selbst für Südamerikas Musterland hoch ist. Der neue Präsident tritt sein Amt als Nachfolger des Konservativen Sebastián Piñera am 11. März an. Amtsinhaber Piñera wünschte der künftigen Regierung auf Twitter "den allergrößten Erfolg".

Eine neue politische Generation

Boric, der aus Punta Arenas an der Südspitze des südamerikanischen Landes stammt, hatte 2011 die Studentenproteste in Chile angeführt und war 2013 zum Abgeordneten gewählt worden. Im ersten Wahlgang vor vier Wochen hatte er knapp hinter Kast noch Platz zwei belegt.

Vor der Stichwahl versuchten er und Kast, sich gemäßigter als bis dahin zu zeigen. Offensichtlich gelang es Boric, dessen Koalition etwa die Kommunistische Partei angehört, seine Basis in der Hauptstadt Santiago de Chile zu erweitern und Unterstützer in ländlichen Gebieten des langen, schmalen Landes zwischen Anden und Pazifik zu gewinnen. So hängte er Kast etwa in der nördlichen Region Antofagasta, in der eine Migrationskrise herrscht, ab.

In seiner ersten Rede als gewählter Präsident, mit der er Tausende auf die Hauptverkehrsstraße Alameda in Santiago de Chile zog, versicherte Boric, die im Wahlkampf offen zutage getretenen Gräben zwischen Rechts und Links überbrücken zu wollen. "Ich werde der Präsident aller Chileninnen und Chilenen sein", sagte er.

Mit der Stichwahl zwischen Boric und Kast wurde nicht nur das traditionelle Parteiengefüge in Chile vorerst Geschichte. Das erste Mal seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 hatten es die traditionellen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien nicht in die Stichwahl geschafft. Mit dem 35-Jährigen Boric zieht nun auch eine neue politische Generation in den Präsidentenpalast ein, die die Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) nicht mehr erlebte und sich von dessen Erbe trennen will.

Gabriel Boric dürfte den Kurs des Aufbruchs halten

So wolle er etwa das neoliberale Wirtschaftsmodell, das General Pinochet mit Hilfe der "Chicago Boys" in Chile eingeführt hatte, begraben, hatte Boric im Wahlkampf gesagt. Er steht für eine wiederbelebte progressive Linke, die vor allem seit 2019 stark gewachsen ist. Unter seiner Führung dürfte das Land den eingeschlagenen Kurs des Aufbruchs alter Strukturen, der einem Teil der Gesellschaft zu schnell und zu weit gegangen zu sein schien, beibehalten.

Boric hat ein öffentliches Bildungswesen und bessere Gesundheitsversorgung nach dem Vorbild des europäischen Sozialstaats versprochen. Zudem setzt er sich für die Rechte von Migranten, Indigenen und Homosexuellen ein. Sein 20 Jahre älterer Rivale Kast hingegen hatte Steuersenkungen, einen Grenzgraben gegen illegale Einwanderung und hartes Vorgehen gegen Kriminelle in Aussicht gestellt. Der neunfache Vater und strenggläubige Katholik von der Republikanischen Partei gilt als Pinochet-Sympathisant.

Chile hat eine lange demokratische Tradition, die durch den Putsch Pinochets 1973 für 17 Jahre unterbrochen wurde, und gilt heute als eine Art Musterbeispiel in der Region. Das Land hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden.

Doch die soziale Schere geht auch weit auseinander. Weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesens sind privatisiert und für viele schwer erschwinglich, immer mehr Chileninnen und Chilenen fühlen sich abgehängt.

Vor zwei Jahren forderten deshalb über Wochen hinweg jeden Tag Tausende Demonstranten soziale Reformen und den Rücktritt Piñeras. Eine ihrer wichtigsten Forderungen, die auch Boric unterstützte, konnten sie bereits durchsetzen: Derzeit arbeitet ein Konvent eine neue Verfassung aus. Der aktuelle Text stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur.

DPA
Martina Farmbauer / fs