In jeder Krise steckt eine Chance - diese auf allen Gipfeln von G8, G20 und EU wiederholte Weisheit gehört zum täglichen Nachrichtengeschäft wie die Wirtschafts- und Finanzkrise und Bilder von Politiker-Limousinen, die sich um die Folgen der Krisen und deren Beseitigung kümmern.
Gerade mal ein gutes Jahr ist es her, dass diese Weisheit noch intensiver beschworen wurde. Damals erreichte eine ganz andere globale Krise ihren ersten Höhepunkt: die globale Nahrungsmittelknappheit. Nun tagt in Rom der Welternährungsgipfel und es wird offenkundig, dass diese epochale Krise heute katastrophale Folgen zeigt - und zugleich fast in Vergessenheit gerät.
Auch wir vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) erlebten das vergangene Jahr als größte humanitäre Organisation der Welt direkt vor Ort. Angesichts der schrecklichen Auswirkungen der Welternährungskrise hieß es auch hier immer wieder, dass selbst diese Krise immense Chancen offenbare. Nun müssen wir feststellen: Eine historische Chance droht verspielt zu werden. Allein in diesem Jahr wurden mehr Menschen zu Hungernden als insgesamt in Österreich, Deutschland und der Schweiz leben.
Der Autor
Ralf Südhoff ist Leiter des World Food Programme (WFP) für Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz. Südhoff hat Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert. Er hat unter anderem bei der "Financial Times Deutschland" und der "Zeit" gearbeitet. Seit 2007 ist er beim Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen.
Eine Milliarde Menschen hungert
Der gigantische Schatten, den die globale Wirtschafts- und Finanzkrise wirft, lässt heute alle anderen Herausforderungen als Nebenschauplätze erscheinen. Für diese und andere Krisen, wie etwa auch den Klimawandel, gibt es viele Schuldige, eine Gruppe gehört aber ganz sicher nicht dazu: die Menschen in den Entwicklungsländern. Trotzdem steuern sie auf eine humanitäre Katastrophe zu.
Natürlich muss man mit diesem Wort vorsichtig sein. Doch wie anders soll man es nennen, wenn im Jahr 2009 binnen weniger Monate mehr als 100 Millionen Menschen zu Hungernden werden? Eine nie da gewesene Explosion der Not. Und zugleich sind diese 100 Millionen nur zehn Prozent der insgesamt weltweit hungernden eine Milliarde Menschen - so viele wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Diese Katastrophe ist nicht spektakulär oder medienwirksam wie ein Flugzeugabsturz. Sie ist schleichend. Die Weltbank warnte vor einem Jahr, dass die Welternährungskrise entweder einen Aufbruch oder einen "stillen Tsunami" auslösen könne. Heute müssen wir feststellen: An den Folgen des Hungers sterben derzeit innerhalb von nur zehn Tagen weltweit rund 250.000 Kinder und Erwachsene - mehr als 2004 beim Tsunami in Südostasien insgesamt ums Leben kamen.
Theroretisch ein Traum - praktisch ein Desaster
Dabei liegt es auf der Hand, wie ihr Tod vermieden werden kann und welche einmalige Chance die Welternährungskrise bietet. Denn die Geschichte wendet sich plötzlich den Ärmsten der Armen zu. Denen, die zu 75 Prozent auf dem Land leben und meist selbst Bauern sind. Bislang litten sie lange unter der Ära scheinbar unendlicher Nahrungsmittelüberschüsse und extrem niedriger Preise.
Doch diese Ära ist endgültig vorbei. In sieben der letzten acht Erntejahre überstieg die globale Nachfrage das Angebot. Schon 2030 muss die Menschheit 50 Prozent mehr Nahrungsmittel als heute produzieren, bis 2050 etwa 70 Prozent mehr. Vor allem der steigende Wohlstand in Asien, die wachsende Weltbevölkerung, der boomende Tierfutter- und Biospritanbau heizen die globale Nachfrage an. Ein gigantischer Wachstumsmarkt. Theoretisch ist die Preisexplosion für Millionen Menschen in den Entwicklungsländern ein Traum. Praktisch ist sie ein Desaster.
Noch im Jahr 2008 reagierten die Staaten der Welt großzügig auf die neue Krise. Das WFP beispielsweise erhielt den Auftrag und auch weitgehend die Mittel, binnen Monaten seine Hilfsoperationen auf über 100 Millionen Hungernde (und damit fast 50 Prozent mehr Menschen als geplant) auszudehnen.
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Viel Geld, doch keine nachhaltigen Investitionen
Diese Ausweitung der Nothilfe war sowohl für die akut Hungernden von entscheidender Bedeutung, als auch für den Kampf gegen die Ursachen des Hungers. Beispielsweise konnte allein das World Food Programme im Jahr 2008 Nahrungsmittel im Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar für Hungernde in den Entwicklungsländern vor Ort kaufen und war damit der größte Ankäufer in diesen Ländern überhaupt. Auf diesem Weg konnte die Hilfsorganisation Not lindern und zugleich in die Landwirtschaft vor Ort investieren.
Doch was 2008 viel versprechend begann, droht jetzt auf Jahre hinweg verspielt zu werden, wenn nicht mit dem momentan stattfindendem Welternährungsgipfel entscheidende, zusätzliche Investitionen auf den Weg gebracht werden. In 2008 stagnierten die Investitionen in die Landwirtschaft - weltweit nahmen sie zuletzt um gerade einmal ein Prozent zu. Auch von den Entwicklungsländern selbst waren hier viel zu geringe Fortschritte feststellbar.
Zahlreiche Industriestaaten haben zugleich angekündigt, dass sie deutlich weniger Entwicklungshilfe leisten werden als bislang zugesagt. Nichtregierungsorganisationen klagen über deutliche Spendeneinbrüche. Die 2008 versprochenen Mittel wurden laut einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam bis zum Frühsommer diesen Jahres erst zu rund 20 Prozent ausgezahlt. Und eine UN-Organisation wie WFP hat den Auftrag, in 2009 mit 108 Millionen Dollar die am ärgsten Hungernden zu unterstützen - und hat zugleich jetzt, im November desselben Jahres, erst knapp die Hälfte seines Jahresbudgets erhalten.
Die humanitäre Finanzkrise
Was wie eine abstrakte Zahl klingt, bedeutet für Millionen ganz konkrete Not, wenn nicht Schlimmeres: In Guatemala musste WFP aufgrund ausbleibender Spenden im Oktober die Hilfe für 150.000 Kinder und Schwangere einstellen; in Bangladesch kann WFP aus dem gleichen Grund vier Millionen Bedürftige überhaupt nicht erreichen und muss vielleicht die Unterstützung für weitere 1,3 Millionen Frauen und Kinder einstellen; in Äthiopien erhalten rund fünf Millionen Hungernde heute nur noch halbe Rationen. All das sind nur wenige Beispiele von zahllosen Ländern, in denen Menschen sich keine Nahrung mehr leisten können - und wo ihnen selbst WFP nicht mehr helfen kann.
Anderen Hilfsorganisationen geht es kaum besser. Während die Zahl der Hungernden neue Rekordstände erreicht, ist die Hungerhilfe auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Kurz gesagt: Die wahre Finanzkrise ist eine humanitäre Finanzkrise, die das Überleben von Millionen Menschen bedroht.