"New-York-Times"-Recherche Hybris, Corona und weit weg von allem: das historische Scheitern Putins in der Ukraine

Wladimir Putin Tisch Verteidigungsminister
Entscheidung am langen Tisch: Wladimir Putin drei Tage nach Beginn der Ukraine-Invasion mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu (2.v.l.) und Generalstabschef Waleri Gerassimow.
© Alexei Nikolsky/Pool Sputnik Kremlin/AP / DPA
Egal wie der Krieg in der Ukraine ausgeht, er ist weder ein "Spaziergang", wie russische Offiziere vorher glaubten, noch ein Erfolg für Kreml-Chef Wladimir Putin. Die "New York Times" dokumentiert aufwendig das "historische Scheitern Russlands".

Keine Medaillen, kein Geld oder irgendein Besitz ist in manchen Kreisen Moskaus das höchste Gut, es ist der direkte Zugang zum "Boss". Oder W.W. wie ihn andere nennen, nach den Anfangsbuchstaben seiner Vornamen: Wladimir Wladimirowitsch. Ein Präsident zum Anfassen war Wladimir Wladimirowitsch Putin ohnehin nie, doch während der Corona-Pandemie zog er sich so sehr zurück, dass selbst enge Mitarbeiter und Vertraute kaum persönlichen Kontakt zu ihm hatten.

Wladimir Putins einziger Berater ist Wladimir Putin 

Was manche Beobachter mutmaßten, scheint nach Recherchen der "New York Times" (NYT) zuzutreffen: der Präsident des größten Landes der Welt war in den letzten Jahren sein eigener, oft sogar sein einziger Berater. Mit fatalen Folgen für Russland und den Rest der Welt.

"Dies ist die Inside-Story des historischen Scheiterns Russland", so nennt die US-Zeitung ihr aufwendig recherchiertes Stück. Durch die schiere Masse an Informationen wurde es in mehrere Teile gegliedert, von denen sich jedes liest wie ein eigenes Drehbuch. Wenn etwa ein ehemaliger Soldat berichtet, wie er bei Kämpfen ein Bein verloren hat und 24 Stunden lang auf Sanitäter warten musste. Oder Offiziere erzählen, dass ihnen direkt vor Kriegsbeginn gesagt wurde, bloß nicht Medaillen und Ausgehuniform für die "Siegesparade in Kiew" zu vergessen. Der "NYT" wurden auch Invasionspläne der Armee zugespielt. Darunter Karten, die die Routen nach Kiew zeigen. Sie stammen aus den 60er Jahren.

Das zweite Kapitel trägt den Titel "Hybris" und dreht sich um Wladimir Putin und sein Weg in den Krieg, den er und seine Leute "militärische Spezialoperation" nennen. Die Zeitung gibt an, mit aktuellen und früheren Vertrauten des Kremlchefs gesprochen zu haben. Ganz nebenbei wird dabei auch der Grund der bizarr-gigantischen Tische enthüllt, an denen sich Putin vor und nach Kriegsbeginn mit Staatsoberhäuptern sowie seinen eigenen Ministern fotografieren ließ.

Lange Quarantäne oder langer Tisch 

Offenbar hat es zwei Möglichkeiten gegeben, den russischen Präsidenten zu treffen: Entweder vorher zwei Wochen in Corona-Quarantäne und anschließend mit normalem Abstand, oder die "Light-Version", wie es die "New York Times" nennt: Dann müssen die Besucher nur drei Tage in Isolation, werden aber dafür an einem fast fünf Meter langem Tisch weit weg von ihrem begehrten Gesprächspartner platziert.

"Putins Isolation hat seine Radikalisierung verstärkt", zitiert die "NYT" Vertraute, die ihn kennen. Einer oder eine von ihnen vergleicht den Prozess mit der sich selbstverstärkenden Social-Media-Spirale. Dabei klicken Nutzer auf Inhalte, die sie emotional stark ansprechen und die Algorithmen sorgen dafür, dass ihnen immer mehr und immer emotionalere Inhalte in die Timeline gespült werden. So ähnlich sei das bei Putin gewesen, nur ohne Internet: "Seine Mitarbeiter haben geguckt, wie er drauf ist und haben seinen Groll noch geschürt", sagt die nicht weiter genannte Quelle.

Andere Gesprächspartner des renommierten US-Blatts bestätigen das Bild eines Kremlchefs, der in den vergangenen Jahren zunehmend den Kontakt zur Außenwelt verloren hat. "Spirale der Selbstüberhöhung und des antiwestlichen Eifers", heißt es dazu an einer Stelle.

"Wenn jeder in deiner Nähe die seit 22 Jahren erzählt, dass du ein Supergenie bist, dann glaubst du das irgendwann", zitiert die "New York Times" Oleg Tinkow, ein russischer Unternehmer und Radsportteam-Besitzer, der sich dieses Jahr vom Kremlchef abgewandt hat. "Russische Firmenchefs, russische Offizielle, das russische Volk sahen alle einen Zar in ihm. Er ist einfach verrückt geworden", so Tinkow.

"Putin entschied, sein eigenes Denken reicht aus"

Diese saloppe Aussage würde zumindest erklären, warum Wladimir Putin offenkundig kaum jemanden in seine Invasionspläne eingeweiht hat. Obwohl jeder die Abertausenden von Soldaten sehen konnte, die in den Wochen vor dem 24. Februar 2022 an der Grenze zur Ukraine aufmarschiert waren. Doch weder wichtige Berater noch Teile der Geheimdienste waren über Putins Pläne informiert. Selbst sein eigener Pressesprecher Dmitri Peskow sowie sein einflussreicher Medienberater Aleksei Gromow geben an, im Vorfeld nichts gewusst zu haben. "Ein langjähriger Vertrauter drückt es so aus: 'Putin entschied, dass sein eigenes Denken für solche weitreichenden Entscheidungen ausreichen würde'", so das US-Blatt.

Das aber tat es ganz offenkundig nicht. Der Grund dafür könnte in schlichter und grandioser Selbstüberschätzung liegen. Manche Experten glauben etwa, dass die militärischen "Erfolge" Russlands in Syrien oder die Krim-Einnahme die Führung des Landes geblendet habe. Auch die Bilanz der teuren und langwierigen Armee-Modernisierung wurde falsch bewertet. So berichtet die "NYT" vom Sicherheitsberater Putins, der 2021 bei einem CIA-Besuch in Moskau von allerneuster Militärtechnik schwärmte, die es sogar mit den Amerikanern aufnehmen könne. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.

Patriotische Transparente gegen Verfall

"Entgegen den Annahmen des Westens ist das russische Militär in seinen Fähigkeiten stark beschränkt und durch jahrelangen Diebstahl ausgeweidet. Hunderte Milliarden Dollar waren für die Modernisierung der Streitkräfte aufgewendet worden, aber Tausende von Offizieren sind in Korruptionsskandale verwickelt." Manche Folgen, so die US-Zeitung, wirken unfreiwilig komisch: So habe ein militärischer Zulieferer erzählt, wie sich eine hochkarätige Delegation angekündigt hatte und er hektisch riesige patriotische Transparente aufhängen ließ, um Teile des heruntergekommenen russischen Panzerstützpunkts zu verbergen. Die Besucher durften nicht einmal auf Toilette gehen, weil sie sonst hätten hinter die Kulissen schauen können.

Auf dem Schlachtfeld allerdings haben Dauerdiebstahl und Führungsschlendrian tödliche Auswirkungen. "Russische Soldaten stapfen durch die Ukraine mit alten Karten aus den 1960er Jahren oder sogar ganz ohne. Sie hatte kaum etwas zu Essen dabei, nur wenige Kugeln und Gebrauchsanweisungen für ihre bis zu 50 Jahre alten Waffen stammten aus Wikipedia. Ihre Positionen erhalten sie über offene Handyleitungen und die Zeitpläne für Einnahme des ukrainischen Territoriums sind unrealistisch. 'Fleischwolf' nennen sie das Schlachtfeld in der Ukraine", schreibt die "New York Times".

Es ist nicht nur die schlechte bis mangelnde Ausrüstung, die den Aggressoren das Leben schwermachen. "Putins zersplitterte Armeen waren oft ihre eigenen Gegner, weil sie um Waffen konkurrierten. Manchmal gingen sie sogar aufeinander los. Ein Soldat erinnert sich an einen Gewaltausbruch. Dabei stürmte ein Panzerkommandant absichtlich auf seine vermeintlichen Waffenbrüder und schoß ihren Kontrollpunkt zusammen", heißt es in der "NYT"-Dokumentation. Die "militärische Spezialoperation" war alles andere als ein "Spaziergang", wie ein Offizier den Einsatz im Vorfeld nannte.

Dümmste Entscheidung Russlands

Dabei war offenbar manchem Experten klar, dass der Krieg nicht mal eben im Vorbeigehen erledigt sein wird. Leonid Iwaschow, Generaloberst und Militärexperte, ist kein Freund des Westens und kritisiert die Verteidigungspolitik Moskaus schon seit längerer Zeit und allen voran den Ukraine-Feldzug – auch in der "New York Times": "Es gab kein einheitliches Kommando, kein Hauptquartier, kein Konzept, und keine gemeinsame Einsatzplanung. Er (der Spezialeinsatz, d. Red.) war dazu bestimmt zu scheitern." Der 79-Jährige wählt für den Krieg Worte, die im Kreml kaum überhört werden dürften: "Niemals in seiner Geschichte hat Russland eine derart dumme Entscheidung getroffen. Heute hat die Dummheit gesiegt – Dummheit, Gier, Rachsucht und sogar eine Art von Bosheit."

Quellen: "New York Times", BBC, DPA, AFP