Wieder geht ein Jahr zu Ende, wieder habe ich das Bedürfnis, einmal kurz innezuhalten und durchzuatmen. Und wieder denke ich: Was für ein furchtbares Jahr. 2020 und 2021 hielt das Coronavirus die Welt in Atem und nahm mindestens sieben Millionen Menschen das Leben. Anfang 2022 veränderte der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine auf einen Schlag alles. Und wo stehen wir heute? Der Krieg in der Ukraine geht bald in sein drittes Jahr und ist zu einem zermürbenden, opferreichen Stellungskrieg in einem zusehends erschöpften Land geworden, ein Ende ist nicht in Sicht. Auf der Weltbühne stehen sich die großen Spieler so feindselig gegenüber wie seit Jahrzehnten nicht. Hitzewellen, Feuersbrünste und Rekordniederschläge ermahnen uns, dass die Klimakatastrophe keine dystopische Zukunftsvision mehr ist, sondern längst begonnen hat.
Und all das wurde in unserer Wahrnehmung noch verdrängt durch die barbarischen Angriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober – nie seit 1945 sind an einem Tag so viele Jüdinnen und Juden so bestialisch ermordet worden. Ja, Israel und seine Bevölkerung haben seither große Solidarität erfahren. Aber überall auf der Welt leben Menschen jüdischen Glaubens wieder in tiefer Furcht. Der Antisemitismus, oft bemäntelt als Israel-Kritik, bricht an vielen Stellen offen auf. Auch mitten in Deutschland montieren Jüdinnen und Juden ihre Klingelschilder ab, verstecken Kippa und Davidstern, weil sie nicht erkannt werden wollen und das Vertrauen verloren haben, dass dieses Land sie schützen kann. Ich finde das beschämend. Und die brachiale Reaktion der israelischen Armee auf die Massaker der Hamas hat unfassbares Leid über die Zivilbevölkerung des Gazastreifens gebracht. Dieses Jahr lehrte uns wieder mal das Fürchten.
"Zeitenwende" hatten wir unser Sonderheft 2022 untertitelt – mit diesem Begriff hatte Kanzler Olaf Scholz die Dimension der Herausforderungen abgesteckt, es wurde zum "Wort des Jahres". 2023 nun hat der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius den Deutschen einen weiteren sperrigen Begriff geradezu vor den Latz geknallt: "Kriegstüchtigkeit" müssten das Land und seine Menschen erlangen. Im Gespräch mit meinen Kollegen Benedikt Becker und Miriam Hollstein bilanziert Pistorius sein erstes Jahr im Amt und seine Versuche, Deutschland und seine oft belächelte Armee wieder hinreichend wehrhaft zu machen für diese raue Welt. Andreas Hoidn-Borchers widmet sich einer anderen, nicht minder wichtigen Herausforderung. 2023, schreibt er, könnte sich "als das Jahr erweisen, in dem etwas Entscheidendes ins Wanken geraten ist". Denn das Vertrauen in die Demokratie und das Parteiensystem zerfalle "im Galopp", die Umfragewerte für die AfD von bundesweit über 20 Prozent seien ein verstörendes Zeichen.
Auch 2024 wird kein einfaches Jahr werden
Hoidn-Borchers fragt aber auch: "Sind im Winter Zehntausende in ihren eisigen Wohnungen erfroren? Mussten BASF und Bayer ihre Produktion einstellen? Stehen Massen zerlumpter und ausgemergelter Menschen bettelnd auf der Straße?" Die Antwort ist selbstverständlich ein dreifaches Nein. Denn auch das dürfen wir am Ende dieses Jahres nicht vergessen: Vieles ist gut gelaufen, manche Aufgaben hat die oft gescholtene Politik besser und effizienter gelöst als erwartet, wir gehen gelassener in den Winter als vor einem Jahr, die Inflation sinkt, die Wirtschaft fasst wieder Tritt. Das sollte uns bei aller Verzagtheit Zuversicht geben. Wir werden sie brauchen können. Denn machen wir uns nichts vor: Auch 2024 wird kein einfaches Jahr werden. Wir sollten unseren Mut und unsere Entschlossenheit beisammenhaben.
Wenn Sie nun auf 2023 zurückblicken, werden Sie sehen: Es gibt auch Momente der Freude und Menschen, die uns Hoffnung machen. Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Jahreswechsel, Zuversicht, Mut und immer wieder Augenblicke, in denen sich dieses Leben einfach nur gut anfühlt.