Deutschland könnte ein kalter Herbst und ein frostiger Winter bevorstehen. Die Bundesnetzagentur fürchtet einen Totalausfall der russischen Gaslieferungen und ruft zu größeren Anstrengungen beim Energiesparen auf. Die Frage sei, ob aus der bevorstehenden regulären Wartung der Gaspipeline Nord Stream 1 "eine länger andauernde politische Wartung wird", sagte Netzagentur-Chef Klaus Müller den Zeitungen der Funke Mediengruppe vom Samstag. Wenn der Gasfluss aus Russland "politisch motiviert länger anhaltend abgesenkt wird, müssen wir ernsthafter über Einsparungen reden".
Die zwölf Wochen bis zum Beginn der Heizsaison müssten genutzt werden, um Vorbereitungen zu treffen, mahnte Müller. Er appellierte an alle Haus- und Wohnungsbesitzer, ihre Gasbrennwertkessel und Heizkörper rasch zu überprüfen und effizient einstellen zu lassen. "Eine Wartung kann den Gasverbrauch um zehn bis 15 Prozent senken", sagte Behördenchef. "Das muss jetzt passieren und nicht erst im Herbst."
Um Engpässe bei den Handwerkerterminen zu überwinden, rief Müller alle Handwerker dazu auf, sich auf Heizung und Warmwasserversorgung zu konzentrieren.
Zugleich warnte Müller vor falschen Akzenten beim Energiesparen. "Die Krisensituation bezieht sich auf Gas - und nicht auf Strom", sagte er. Deutschland stehe nicht vor einer Stromlücke. "Wir haben auch keine Mangellage bei Benzin und Öl. Das ist alles verfügbar. Ich werbe dafür, den Blick auf Gas zu fokussieren."
Gasnotlage: systemrelevante und kritische Betriebe bevorzugt
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte am 23. Juni wegen der gedrosselten russischen Lieferungen die zweite Krisenstufe im Notfallplan Gas, die sogenannte Alarmstufe, ausgerufen.
Gegenüber den Funke-Zeitungen führte Müller aus, wen mögliche Gas-Rationierungen treffen könnten. In einer Gasnotlage "können wir nicht jeden Betrieb als systemrelevant einstufen", sagte er. "In kritischen Bereichen wie Teilen der Lebensmittel- und Pharmabranche müssen wir sehr vorsichtig sein. Dagegen wären Produkte und Angebote, die in den Freizeit- und Wohlfühlbereich fallen, eher nachrangig. Schwimmbäder gehören wohl nicht zum kritischen Bereich, genauso wie die Produktion von Schokoladenkeksen."
Müller betonte zugleich, die Netzagentur sehe "kein Szenario, in dem gar kein Gas mehr nach Deutschland kommt". Deutschland könne unter anderem aus Norwegen und aus den Niederlanden versorgt werden.
Hamburg: Umweltsenator bringt Rationierung von Warmwasser ins Spiel
Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) schließt für den Fall eines Gas-Notstandes in der Hansestadt eine Begrenzung des Warmwassers für private Haushalte nicht aus. "In einer akuten Gasmangellage könnte warmes Wasser in einem Notfall nur zu bestimmten Tageszeiten zur Verfügung gestellt werden", sagte Kerstan der "Welt am Sonntag". Auch eine generelle Absenkung der maximalen Raumtemperatur im Fernwärmenetz käme in Betracht. Es werde in Hamburg schon aus technischen Gründen nicht überall möglich sein, im Fall einer Verknappung von Gas zwischen gewerblichen und privaten Kunden zu unterscheiden, sagte er der Zeitung.
Kerstan erklärte, ein mögliches provisorisches LNG-Terminal im Hamburger Hafen könne frühestens im kommenden Mai betriebsbereit sein. "Wir werden im Laufe des Juli wissen, ob und an welchem Standort ein provisorisches LNG-Terminal in Hamburg machbar ist." Das Gas könnte dort voraussichtlich ab Mai 2023 umgeschlagen werden. Die vollständigen Ergebnisse der Standort-Überprüfungen würden im Oktober vorliegen, sagte Kerstan.
Neben einem möglichen provisorischen LNG-Terminal in Hamburg plant Wirtschaftsminister Robert Habeck auch mit zwei weiteren in Wilhelmshaven und Brunsbüttel, die zum Jahreswechsel 2022/2023 in Betrieb genommen werden sollen. Die Bundesregierung habe vier schwimmende Flüssiggasterminals gemietet, sagte Habeck der "Welt am Sonntag". "Zwei Schiffe stehen bereits in diesem Jahr zur Verfügung und sollen zum Jahreswechsel 2022/23 in Wilhelmshaven und Brunsbüttel eingesetzt werden." Sein Ministerium arbeite deshalb im engen Austausch mit den Ländern. "Alle klemmen sich hier dahinter, denn wir müssen letztlich ein Tempo vorlegen, dass es so in Deutschland noch nicht gab", sagte Habeck der Zeitung.
Verbraucherzentrale fordert Gesetzesänderung
Derweil warnte der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) davor, die drastischen Preisanstiege bei Gas unmittelbar an die Verbraucher weiterzugeben, und forderte Gesetzesänderungen. "Die Preissteigerungen sind für viele Menschen kaum noch zu schultern", sagte der Leiter des Teams Energie und Bauen beim vzbv, Thomas Engelke, der Düsseldorfer "Rheinischen Post" vom Samstag.
Der Paragraf 24 des Energiesicherheitsgesetzes müsse dringend von der Bundesregierung überarbeitet werden. "Denn ohne Änderungen könnten die Energieanbieter bei Ausrufung der Gasmangellage durch die Bundesnetzagentur die teuren Börsengaspreise 1:1 an die privaten Haushalte durchreichen. Der extrem hohe Gaspreis überfordert Millionen Haushalte."