Es klingt ganz eindeutig. "Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", sagt Artikel 38 des Grundgesetzes über die Abgeordneten des Bundestages. "Freies Mandat" heißt das - im Gegensatz zum "imperativen Mandat", bei dem Abgeordnete mit einem Parteiauftrag in ein Parlament geschickt würden. Aber ganz so frei sind die Abgeordneten dann doch nicht. Vor allem bei knappen Mehrheiten, wie jetzt im Bundestag, mühen sich die Zuchtmeister der Fraktionen um geschlossenes Abstimmverhalten. "Fraktionsdiziplin" nennen das die einen, "Fraktionszwang" beklagen die anderen.
Abweichler und wütende Reaktionen
Dass Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) auf seine Mehrheit aufpassen muss, ist nicht erst seit seiner Wahl vom Oktober 2002 klar, als ein Abgeordneter dem rot-grünen Lager abhanden kam und er nur 305 statt 306 Ja-Stimmen bekam. Aber schon im August 2001 hatten sich 18 SPD-Genossen beim Votum über einen Bundeswehreinsatz in Mazedonien von der damaligen Regierungsmehrheit abgesetzt. Im November 2001, als es um den Einsatz in Afghanistan ging, verband Schröder die Abstimmung gleich mit der Vertrauensfrage und brachte damit die Fraktion auf Kanzlerlinie. Bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform Ende September gab es sechs SPD-Abweichler und wütende Reaktionen von Fraktionschef Franz Müntefering.
Das Problem der Geschlossenheit ist alt. 1972 gab es im Zusammenhang mit den Ostverträgen nicht nur Abweichler aus der sozial-liberalen Koalition, sondern deren Wechsel ins Oppositionslager - was damals noch weiter reichende Fragen über die Verpflichtungen des Abgeordneten gegenüber Wählern und Partei aufwarf.
"Zunehmende Komplexität der Regelungsbedürfnisse"
Im Juli 2000 stellte das Bundesverfassungsgericht zur Rolle der Fraktionen fest, "dass nicht mehr wie in der klassischen Lehre Parlament und Regierung einander gegenüberstehen, sondern die Grenze quer durch das Plenum verläuft: Regierung und die sie unterstützende Parlamentsmehrheit bilden gegenüber der Opposition politisch eine Einheit". Die Richter sehen eine "zunehmende Komplexität der Regelungsbedürfnisse": Das Eingebundensein der Abgeordneten in Parteien und Fraktionen sei vor dem Hintergrund "funktioneller Differenzierung der Parlamentsarbeit" zulässig. "Die Fraktionen als zentrale Organisationseinheit des Parlaments, die unterschiedliche Vorstellungen und Ziele bündeln, garantieren die parlamentarische Handlungsfähigkeit." (2 BvH 3/91)
Aus Artikel 38 des Grundgesetzes lesen die Fraktionsvorsitzenden aller Parteien heraus, dass Abgeordnete nur in Gewissensfragen aus der Fraktionsdisziplin ausscheren könnten. Freilich ist stets sehr umstritten, was eine Gewissensfrage ist: Abtreibung, Bioethik, Ausländerrecht, Bundeswehreinsätze - das Themenspektrum ist breit und scheint auch der politischen Konjunktur unterworfen zu sein.
So sehr die einen die Vorstellung eines "persönlichen Mandats" jedes einzelnen Abgeordneten schätzen und dieses nicht einem "Depotstimmrecht" der Fraktionsvorsitzenden opfern mögen, so sehr mahnen die anderen die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes an. In dieser Argumentation sind sich Alt-Parlamentarier wie Peter Struck oder Wolfgang Schäuble parteiübergreifend einig. "Wenn jeder nur das macht, was er will, bekommen wir keine Mehrheiten, haben wir keine stabile Demokratie und die Freiheit der Bürger ist weniger sicher" (Schäuble).

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Wenn Disziplinarmittel fehlschlagen
In der Weimarer Republik hatte die KPD das Problem durch Blanko-Verzichtserklärungen gelöst, die alle Abgeordneten unterschreiben mussten - und schon damals illegal waren. Heute droht Abweichlern allenfalls, bei den nächsten Wahlen nicht mehr aufgestellt zu werden. Schließlich ist der Abgeordnete ja, wie Ex-Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) einst sagte, "nicht nur seines Charmes wegen gewählt worden". Ein Disziplinarmittel, das beim Grünen Hans-Christian Ströbele fehlschlug: Er bekam nach seinem Nein zu Bundeswehr-Auslandseinsätzen keinen sicheren Listenplatz mehr für die Wahl 2002. Daraufhin wurde er von den Wählern in Berlin-Friedrichshain/Kreuzberg und Prenzlauer Berg Ost mit einem der wenigen Direktmandate belohnt.