Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in der deutschen Politik: Auf Parteitagen der Grünen muss immer ein wenig Chaos herrschen. Bei der SPD muss immer ordentlich Selbstzerfleischung sein. Und ein ordentlicher CDU-Parteitag strahlt bitte sehr große Zufriedenheit aus - mit sich, mit der eigenen Politik und vor allem mit der Vorsitzenden. Die CDU ist Merkel und Merkel ist die CDU. Den christdemokratischen Delegierten reicht das völlig: Hauptsache, wir regieren - respektive Hauptsache, wir werden einigermaßen anständig regiert.
Merkel hat diesen Minimalanforderungen in den vergangenen Jahren zur vollsten Zufriedenheit entsprochen. Darum kann sie Reden halten, die der Gedankenfreiheit huldigen, die wenig Neues bieten und noch weniger Begeisterung hervorrufen. Die Partei erträgt es nicht nur, sie badet ihre Chefin trotzdem in Applaus, so wie auch am Samstag auf dem Parteitag zur Europawahl in den Berliner Messehallen, denn Merkel sorgt für wohlige Stimmung: Sie tut nicht weh, sie ist erfolgreich, gewinnt Wahlen - zuletzt in Berlin, bald hoffentlich auch in Brüssel.
Gleich drei kritische Wortmeldungen
Was denn sonst? Die gewählte Kanzlerin von Deutschland ist die ungekrönte Königin Europas. Konsequenterweise druckt die CDU zunächst allein Merkels Porträt auf die Plakate zur Europawahl. Das Gesicht von David McAllister, offiziell Spitzenkandidat der CDU, soll in der Endphase folgen. Auf Werbung mit dem Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, Luxemburgs Ex-Premier Jean-Claude Juncker, der doch neuer Präsident der EU-Kommission werden soll, verzichtet die CDU komplett.
Merkel - das muss reichen. Und sehr vielen reicht es. Doch ein paar Leute scheint es in der Union noch zu geben, denen Inhalt zumindest so wichtig erscheint, dass er Streit wert wäre. Zu sehen am Samstag, als nach Merkels kurzer Parteitagsrede der Tagesordnungspunkt "Aussprache" aufgerufen wird. Normalerweise treten dann brave Parteifreunde ans Pult, loben die wegweisende Rede, bekräftigen dies, geben allenfalls jenes zu bedenken. Insofern muss beinahe als Revolution gelten, wenn unter den knapp ein Dutzend Wortmeldungen gleich drei (!) als kritisch gelten können. Wenn diese drei sich zudem einem Thema widmeten, das hier gar keine Rolle spielen sollte: das Rentenpaket der Großen Koalition.
Nur die Vorhut der Kritik
Es sprach nicht die Parteiprominenz, aber auch nicht irgendwer: der Chef der Wirtschaftsvereinigung, ein Staatssekretär und der Vize der Jungen Union, der die anwesenden Abgeordneten beinah anflehte, sich gegen die Pläne zur Rente mit 63 zu stellen. Und diese drei Renten-Recken bildeten nur die Vorhut der Kritik. Von etwa 50 Abgeordneten ist die Rede, die bereits Widerstand gegen das allzu spendable Rentenpaket der Regierung angekündigt haben.
Am Ende stimmt die Mehrheit der Delegierten des Parteitags - gegen das Votum der Antragskommission - für die Abschaffung der Sommerzeit. Das ist vielleicht noch keine Revolution, aber doch ein Zeichen dafür, dass sich die Zeiten ändern können, auch für Merkel.