Manch einer erlebt dieser Tage womöglich ein Déjà-vu. Man erinnere sich dafür an das letzte Jahr. Reisen, private Treffen, Feiern, all das war im Sommer unter Auflagen wieder möglich. Die Inzidenz war niedrig, warnende Stimmen von Politikern und Experten vor einer neuen Welle im Herbst drangen als ferne Störgeräusche an die Ohren der Bevölkerung. Die Impfbereitschaft war niedrig, trotz eindringlicher Bitten des damaligen Gesundheitsministers Spahn.
Im Herbst brach sie dann plötzlich wieder herein, die Corona-Welle. Groß war dann auch der Aufschrei, als herauskam, dass die Impfung weniger effektiv vor einer Infektion schützt als angenommen. Die Politik musste ihre Erwartungen an den vielbeschworenen Piks wegen der neuen Coronavariante schließlich ein weiteres Mal massiv herunterschrauben. Jetzt startet sie einen neuen Anlauf – unter einem neuen Gesundheitsminister und mit einem angepassten Impfstoff.
Diesen hatte das Mainzer Pharmaunternehmen Biontech Pfizer bereits für dieses Frühjahr angekündigt. Kommen soll er jetzt aber erst im Herbst. Biontech lässt dazu wissen, dass die Schuld an der Verzögerung nicht beim Unternehmen liege. "Wir waren in der Lage, den Impfstoff innerhalb von 100 Tagen anzupassen und erste Chargen herzustellen", schreibt eine Unternehmenssprecherin auf stern-Anfrage. Allerdings hätten sich die Anforderungen an eine mögliche Zulassung durch die zuständigen Behörden verändert. Die Hersteller hätten daher klinische Daten erhoben. Das dauere zwischen vier und sechs Monaten. Zudem fehle derzeit noch ein Zulassungsprozess für angepasste COVID-19-Impfstoffe, heißt es in der schriftlichen Antwort. Wann der Omikron-Impfstoff bereitsteht, sei deshalb offen.
EU hat sich bereits Milliarden Impfdosen gesichert
Das Bundesgesundheitsministerium rechnet nach stern-Informationen im September mit dem angepassten Impfstoff. Auf die Frage, wie viele Dosen sich Deutschland bereits gesichert habe, hält sich das BMG aber bedeckt. "Adaptierte Impfstoffe wurden in einer ausreichenden Anzahl bestellt", heißt es in der schriftlichen Antwort.
Bisher nur voläufig zugelassen
Laut EU-Kommission dauert die Entwicklung eines neuen Impfstoffs fünf bis zehn Jahre. In öffentlichen Gesundheitskrisen kann für Arzneimittel oder Impfstoffe eine bedingte Marktzulassung erteilt werden. Sie werden dann vorläufig zugelassen, wenn die Europäische Arzneimittel-Agentur diese für sicher und wirksam erklärt hat. Der Hersteller muss aber weitere Daten innerhalb eines vorgegebenen Zeitraumes nachliefern. Die bedingte Marktzulassung gilt jeweils für ein Jahr und kann immer wieder um denselben Zeitraum verlängert werden. Laut Kommission hat sich die EU 2020 bewusst für die bedingte Markt- und gegen eine Notfallzulassung entschieden. Letztere erlaubt, dass ein nicht zugelassener Impfstoff in einem bestimmten Zeitraum angewendet werden darf.
Konkreter äußert sich dagegen die EU-Kommission. Laut dem dritten Vertrag, den das Gremium mit Biontech im Mai 2021 abgeschlossen hatte, wurden bis 2023 180 Milliarden Impfstoffdosen für die EU reserviert. Welchen Anteil der aktuell verfügbare sowie angepasste Impfstoff daran ausmachen, ließ die Kommission offen. Sie rechnet aber damit, dass allein in diesem Jahr insgesamt 650 Millionen Dosen geliefert werden.
Eine ähnliche Vereinbarung wie mit Biontech hat die Kommission auch mit den US-amerikanischen Hersteller Moderna getroffen. Die Lieferungen sollen demnach an den Bedarf der EU-Mitgliedstaaten angepasst werden. "Sollte ein angepasster Impfstoff nach Bewertung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur eine EU-Zulassung erhalten, kann ein Teil der für April, Mai und Juni vorgesehenen Dosen ab September 2022 als Auffrischungsdosen geliefert werden, die an die derzeitigen COVID-19-Varianten angepasst sind", schreibt die Kommission auf Anfrage.
Auch mit dem österreichisch-französischen unternehmen Valneva, das einen inaktivierten Ganzkörpervirus-Impfstoff (besser bekannt als "Totimpfstoff") entwickelt hat, hat die EU einen Vorverkaufsvertrag abgeschlossen. Der Impfstoff durchläuft derzeit noch das Zulassungsvefahren der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Einziger Haken: Nach Unternehmensangaben würden die von der EU vorläufig bestellten Mengen nicht ausreichen. Sollte die EU nachträglich weniger Dosen brauchen, würde sie den Vertrag möglicherweise wieder kündigen.

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In diesem Fall "ist Valneva nicht verpflichtet, die erhaltenen Anzahlungen zurückzuzahlen, da Valneva den vollen Betrag dieser Anzahlungen ausgegeben oder zugesagt hat und der Vorabkaufvertrag unter diesen Umständen keine Rückzahlung dieser Zahlungen vorsieht", heißt es in der schriftlichen Mitteilung an den stern. Die EU bespricht sich aktuell mit den Mitgliedstaaten, ob der Vertrag wieder gekündigt werden soll. Weiteres wollte die Kommission nicht kommentieren.
Hausärzte sollen gegen Coronavirus impfen
Soweit, so unklar. Und wie sollen die bestellten Impfstoffe an die Bürger gebracht werden? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach plant hierfür eine neue Impfkampagne im Herbst. "Ziel ist es, die Impflücke zu schließen und die vierte Impfung zu bewerben; insbesondere in der älteren Bevölkerungsgruppe", heißt es in einem Papier aus dem Gesundheitsministerium, das der Nachrichtenagentur AFP vorliegt. Dazu gehöre die "Beschaffung einer ausreichenden Anzahl von angepassten Impfstoffen von Moderna sowie Biontech". Auch Kinder und Jugendliche sollen verstärkt angesprochen werden. Schon jetzt ruft Gesundheitsminister Lauterbach dazu auf, sich ein viertes Mal impfen zu lassen.
Impfdosen vor dem Verfall
Nach Informationen des Bundesgesundheitsministeriums sollen bis Ende Juni ungefähr vier Millionen Impfstoffdosen verfallen (Stand 15. Juni 2022). Im Juli verfallen weitere eine Millionen Dosen, dabei handelt es sich laut BMG hauptsächlich um mRNA-Impfstoffe. "Das Bundesministerium für Gesundheit setzt sich in Zusammenarbeit mit der Europäischen Arzneimittelagentur, der Europäischen Kommission, dem Paul-Ehrlich-Institut und den Herstellern kontinuierlich dafür ein, die Haltbarkeit der bereits ausgelieferten Impfstoffe zu verlängern, soweit die verfügbaren Stabilitätsdaten der pharmazeutischen Unternehmer dies rechtfertigen", teilt das BMG auf Anfrage mit. Zudem werde geprüft, ob Impfstoffe gespendet werden können. "Angesichts der aktuell insgesamt geringen Nachfrage nach COVID-19-Impfstoffen, sind jedoch auch die internationalen Abgabemöglichkeiten derzeit marginal."
Davon, auf den angepassten Impfstoff zu warten, rät er jedoch ab. Die zahlreichen Impfdosen, die in den Lagern kurz vor dem Verfall stehen, dürften mit ein Grund für Lauterbachs Empfehlung sein. Eine medizinische Empfehlung steht zumindest noch aus. Zumindest verzichtet die Ständige Impf-Kommission (Stiko) bisher darauf, eine zweite Corona-Booster-Impfung für alle Bevölkerungsgruppen zu empfehlen. Eine neue Impfempfehlung sei derzeit nicht und niemandem möglich, "denn wir wissen nicht, wann welche neuen Impfstoffe zur Verfügung stehen werden", sagte der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens der Düsseldorfer "Rheinischen Post". Und: "Wir wissen nichts über die Varianten, die im Spätsommer und Herbst auftreten können." Es fehle daher derzeit "die Basis für eine solide, begründbare Empfehlung".
Arztpraxen statt Impfzentren
Potenzielles Konfliktpotenzial könnte auch die Frage bieten, wo die Bürger geimpft werden sollen. Der Deutsche Hausärzteverband spricht sich dafür aus, dass nur noch niedergelassene Ärzte den Piks verabreichen. "Knapp drei Viertel der Impfungen werden von den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten durchgeführt. Der Großteil von den Hausärztinnen und Hausärzten, die in aller Regel die ersten Ansprechpartner sind", schreibt Pressesprecher Vincent Jörres dem stern. In früheren Pandemiephasen hätten sie gezeigt, dass sie in der Lage seien, hunderttausende Impfungen pro Tag durchzuführen.
"Die Hausärztinnen und Hausärzte werden auch im Herbst in der Lage sein, jeden zu impfen, der dies möchte. Hierauf haben sich die Praxen vorbereitet. Voraussetzung ist natürlich, dass die Impfstoffe diesmal verlässlich und koordiniert geliefert werden. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall", heißt es in der schriftlichen Antwort. In den Impfzentren sieht der Hausärzteverband keinen Sinn. Stattdessen sollte das Konzept der mobilen Impfteams ausgebaut werden. Damit hätten Länder und Kommunen gute Erfahrungen gemacht.
Wie viele Impfzentren es aktuell noch gibt, ist unklar. Das Bundesgesundheitsministerium verweist darauf, dass hierfür die Länder zuständig sind. Allerdings würden alle Zentren und mobilen Impfteams bis Ende des Jahres zu 50 Prozent finanziell vom Bund unterstützt. Eine Anfrage an die Länder zeigt: Dort setzt man auf eine Mischung aus Arztpraxen, Impfzentren und mobilen Impfteams. Schwerpunktmäßig sollen die Impfungen von den Hausärzten durchgeführt werden. Öffentliche Impfzentren werde es vereinzelt weiterhin geben. in Thüringen beispielsweise aber nur noch bis Jahresende. In Niedersachsen gibt bereits seit Oktober letzten Jahres keine Impzentren mehr.
Anders dagegen im Bundesland Bayern: Dort sind die Betreiber der Impfzentren gehalten, ihre Kapazitäten bei Bedarf rasch wieder hochfahren zu können. "Jeder, der sich impfen lassen möchte, soll zeitnah die Gelegenheit dazu haben. Sollte es im Herbst zu einem deutlich erhöhten Impfbedarf kommen, können die Kreisverwaltungsbehörden – je nach örtlichem Bedarf – zudem wieder Standorte eröffnen", heißt es in einer schriftlichen Antwort. Im Hinblick auf Organisation, Impfstoffbestellung und Rekrutierung von Personal seien gewisse Vorlaufzeiten für eine Kapazitätssteigerung kaum zu vermeiden.
Seit Jahresbeginn ist die Zahl der Impfungen nach Angaben der zuständigen Ministerien in den Ländern gesunken. Allerdings rechnen die Behörden damit, dass die Nachfrage im Herbst wieder steigen wird. Gründe hierfür könnten der angepasste Omikron-Impfstoff oder eine generelle Empfehlung zur viertne Impfung durch die Stiko sein.
Im Herbst muss sich dann zeigen, ob Karl Lauterbach die Impfbereitschaft erfolgreicher steigert als sein Vorgänger Jens Spahn. Das Vertrauen der Bevölkerung dürfte ihm dabei nicht unbedingt zufliegen, denn wenn eines seit Beginn der Impfungen klar geworden ist, dann, dass sie nicht das zuverlässigste Mitel im Kampf gegen die Pandemie ist. Bleibt nur zu hoffen, dass wir in diesem Herbst nicht erneut ein Déjà-vu erleben.