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Interview mit Konfliktforscher Haben wir schon jetzt Ghettos in Deutschland?

Die Silvesternacht von Köln hat die Integrationsdebatte in Deutschland neu angefacht. Politiker fordern eine Wohnsitzauflage für Flüchtlinge - um Ghettos zu verhindern. Der stern sprach mit dem Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer über soziale Brennpunkte.

Nach den Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln geht die Suche nach den Tätern weiter - bislang laufen Ermittlungen gegen 19 Tatverdächtige. Laut einem Bericht des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen hat keiner der Tatverdächtigen die deutsche Staatsbürgerschaft. Zehn Männer hätten den ausländerrechtlichen Status "Asylbewerber". Die neun weiteren mutmaßlichen Täter sind vermutlich illegal in Deutschland. 14 der 19 Personen stammen aus Marokko und Algerien.

Im Zuge der Ereignisse werden bei Politikern die Rufe nach strengeren Regeln für Asylbewerber laut - dies betrifft die Auswirkungen von Straften auf Asylverfahren, aber auch die Unterbringung von Flüchtlingen.

Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer

Professor Dr. Wilhelm Heitmeyer ist ehemaliger Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Seit 2013 ist er als Senior Research Professor am IKG tätig.

Vizekanzler Sigmar Gabriel will Flüchtlingen gar vorschreiben, wo sie wohnen sollen. In der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" sagte Gabriel, "Ich glaube, wir brauchen eine Wohnsitzauflage. Sonst ziehen die Menschen - auch die anerkannten Asylbewerber - alle in die Großstädte." Da ballten sich Schwierigkeiten, "und wir kriegen richtige Ghetto-Probleme". Ghettos als Brutstätte für Gewalt und Kriminalität? Ist die Wohnsitzauflage die Antwort? 

Im Interview erklärt Professor Dr. Wilhelm Heitmeyer, ehemaliger Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, dem stern,wie es um die Ghettoisierung in deutschen Großstädten bestellt ist.

Herr Heitmeyer, existieren bereits heute Ghettos in Deutschland?

Der Begriff Ghetto ist sehr problematisch. Historisch gesehen hat der Begriff ja eine Bedeutung, die mit der Verhinderung von Freizügigkeit einhergeht, von daher verwende ich den Begriff nicht - denn wir leben in Deutschland ja in einer offenen Gesellschaft. Worum es in Zukunft in Bezug auf den Flüchtlingszuzug geht, ist die Frage wie man in Großstädten damit umgeht. Oft bieten diese Flüchtlingen ja neue berufliche Chancen, zumindest bessere als auf dem Land. Wir wissen ja auch, dass Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte auch besonders häufig in ländlichen Regionen und in Kleinstädten geschehen. In der Großstadt schützt die Anonymität zumindest ein wenig.

Wie wollen Sie Problementwicklungen beschreiben?

Anstatt 'Ghettoisierung' bevorzuge ich den Ausdruck der Segregation. Das ist die sozial ungleiche Aufteilung der Bewohnerschaft, die es in jeder Migrationsgesellschaft gibt. Zunächst existiert etwas wie eine funktionale Segregation, das heißt, Menschen aus einem bestimmten Kulturkreis gehen dahin, wo schon Menschen ihrer Herkunft sind - unter anderem wegen gegenseitigen Hilfeleistungen. Dies ist zunächst kein Problem - das beginnt dann, wenn es zu einer strukturellen Segregation kommt, das heißt, dass Menschen aufgrund fehlender bezahlbarer Unterkünfte nicht mehr aus dem Gebiet wegziehen können und insofern keine wirkliche gesellschaftliche Integration erfolgt - sondern bestenfalls eine Binnenintegration. In diesem Zusammenhang kann es also auch in Deutschland dazu kommen, dass plötzlich ganze Straßenzüge von einer bestimmten Herkunftsgruppe beherrscht werden.

Ist die Situation in deutschen Großstädten mit der Situation in den "Banlieues" von Paris oder Marseille zu vergleichen?

Nein, die Situation in den Banlieues in Frankreich ist völlig unterschiedlich. Dies beginnt schon mit der Bebauungsstruktur mit besonders vielen Hochhäusern, ohne eine ausreichende Infrastruktur - und somit einer mangelnden Gelegenheit für die Bewohner, in den Arbeitsmarkt einzutreten. Die Integrationspolitik in Frankreich ist denkbar schlecht. Den einzigen Kontakt, den junge Maghrebiner (Anm. d. Red Maghreb ist ein Oberbegriff für die drei nordafrikanischen Staaten Tunesien, Algerien und Marokko) häufig überhaupt zur Mehrheitsgesellschaft haben, erfolgt über die Polizei - die an vielen Stellen brutal vorgeht, was im Gegenzug wiederum Hass hervorruft.

In Köln scheinen vor allem diese sogenannten Maghrebiner Täter gewesen zu sein. Gibt es da schon Erklärungsansätze? Das hat doch nicht kulturelle Hintergründe?

Nicht die Kultur per se ist maßgeblich. Es geht immer um Chancenstrukturen. Gleichwohl sind homogene Wohnviertel mit Personen ohne Perspektive anfällig für Kriminalität - aber gleichzeitig ist dies eine empirische Frage, die ich so nicht beantworten kann. Die kriminellen Aktivitäten streuen breit über die Herkunft von Personen hinweg und hängen besonders bei jungen Menschen stark mit Chancenstrukturen und Anerkennungsmöglichkeiten zusammen.

Die Bundesregierung prüft derzeit eine Wohnort-Pflicht für Flüchtlinge - ist das der richtige Ansatz? Was kann man gegen strukturelle Segregation tun?

Diesbezüglich sollte man einen Blick in die Niederlande werfen, wo bereits eine solche politisch-gesteuerte Zuzugsverweigerung in bestimmte Städte oder Stadtteile erprobt wird . In jedem Fall sollte man vermeiden, jetzt großflächige Flüchtlings-Stadtviertel zu errichten, weil dadurch die strukturelle Segregation mit allen vorhersehbaren Folgeproblemen von vornherein eingebaut ist. Wir wissen ja beispielsweise, dass bestimmte Adressen häufig die Chancenstrukturen in Bezug auf Umzüge oder Zugänge in den Arbeitsmarkt mitbestimmen. Allerdings war es ein großer Fehler, den sozialen Wohnungsbau massiv zu vernachlässigen - und damit ein ganz zentrales Steuerungselement der Stadtpolitik aus der Hand zu geben - in die Hände von Kapitalinvestoren, die nur geringes oder gar kein Interesse an sozialer Integration, sondern an höchstmöglicher Rendite haben.

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