Böhmermann-Verfahren Danke, Präsident Erdogan!

Der türkische Präsident tut Deutschland gut: Er hat unfreiwillig das Strafrecht liberalisiert. Majestätsbeleidigung nach Paragraph 103 gibt es künftig nicht mehr. Alles andere ist schauerliche Realpolitik. 

Die Juristen der Bundesregierung mussten ja auch erst mal nachschauen. Paragraph 103, Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter, bewehrt mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe? Und die Regierung muss auch noch ihr Plazet für das Verfahren geben? Oh My God. Ein Passus im Strafgesetzbuch, der so richtig mufft. Nach Kaiserreich, Obrigkeitsstaat und Willkür. Niemand hatte diese Karteileiche des Rechtsstaats mehr auf dem Zettel. Bis der türkische Präsident Recep Erdogan kam, Klage nach Paragraph 103 beantragte und die Regierung Merkel in eine schwere Bredouille brachte. Sie musste plötzlich eine Entscheidung treffen, für oder gegen das Verfahren, und beides würde wie ein vorweg genommenes regierungsamtliches Urteil wirken.

Allein um eine solche Situation zukünftig zu vermeiden, waren sich die beteiligten Ministerien zumindest darüber schnell einig: Der 103 muss weg. Ein für alle mal. Auf den Müllhaufen der Rechtsgeschichte. Noch in dieser Legislaturperiode werde ein Gesetz zur Aufhebung dieses Paragrafen erlassen, sagte die Kanzlerin in Berlin, er sei "entbehrlich". Damit vollzieht die Regierung eine längst überfällige Bereinigung des Strafgesetzes nach. Das wäre nicht ohne Erdogan passiert. Er hat, wenn auch unfreiwillig, für eine weitere Liberalisierung Deutschlands gesorgt. Dafür gebührt ihm (Achtung: Ironie) unser tief empfundener Dank.

Ein Mann will Rache

Alles andere ist schauerliche Realpolitik. Angela Merkel hat in dieser Affäre nicht ihre beste Rolle gespielt, sondern zu erkennen gegeben, wie fragil ihre politische Lage ist und wie stark sie bereits vom Wohlwollen des türkischen Autokraten abhängt. Ohne direkt gefragt worden zu sein, sagte ihr Sprecher Steffen Seibert Anfang April, dass die Kanzlerin Böhmermanns Gedicht für "bewusst verletzend" halte. Das war ein erstes Zugeständnis an Erdogan, Merkel kommentiert Satire ansonsten nie. Damals hoffte sie wohl noch, dass diese öffentlichen Rüge Böhmermanns den türkischen Potentaten besänftigen würde. Aber da hatte sie sich verkalkuliert. Ein Mann, der glaubt, nur ein 1000-Zimmer-Palast sei seiner Herrlichkeit angemessen, kann sich nicht verspotten lassen. Mehr als 1800 Verfahren wegen Präsidenten-Beleidigung laufen in der Türkei, teilweise sogar gegen Kinder. Erdogan ist nicht selbstbewusst genug, um Kritik zu ertragen. Er will Rache.

So kam es zum zweiten Akt: zivilrechtliche Klage plus Klage nach Paragraph 103. Nun musste sich Merkel entscheiden. Schnell sickerte durch, dass die SPD - und das von Frank-Walter Steinmeier geführte Auswärtige Amt - strikt gegen eine Befürwortung des Verfahrens waren. Aber die Union und das Kanzleramt setzten sich durch. Zu sehr fürchtete Merkel  offenbar, dass eine Verweigerung Erdogan nachhaltig verstimmen könnte und sie auf ewig dem Vorwurf ausgesetzt wäre, ihr eigenes Urteil über das Recht zu stellen. Also stimmte sie zu - und verkündete die Entscheidung persönlich im Kanzleramt. Mehr Staatsakt geht nicht. Wenn es Erdogans Absicht war, Merkel vorzuführen - das ist ihm gelungen. Sie wird es sich merken. Andererseits hat Merkel die Rechnung mit diplomatischen Worten auch sofort wieder beglichen. Wer Merkels kurzer Ansprache genau zuhört, wird darin kein Wort des Verständnisses für Erdogan finden. Aber sehr hohe Wertschätzung von Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und Rechtsstaatlichkeit. Und die "große Sorge" darüber, dass sich der türkische Staat daran nicht hält.

Böhmermanns Werk und Merkels Beitrag

Nun liegt der Fall Böhmermann bei der Justiz, da, wo er hingehört. Die Verhandlungen ziehen sich womöglich Jahre hin, der deutsche Anwalt Erdogans hat bereits angekündigt, durch alle Instanzen gehen zu wollen. Am Ende wird es ausgehen, wie es immer ausgeht: Die Richter werden höchstens eine kleine Geldbuße verhängen. Die Verhandlungen jedoch dürften die Grenze zwischen Satire und Beleidigung neu justieren. Das ist es, was Böhmermann wollte. Merkels Zorn über den politischen Lärm kriegt er kostenlos dazu.

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Fühlen sich Türken durch Böhmermanns Satire beleidigt?