Hätten Sie sich vorstellen können, dass wir irgendwann einmal in einem Land leben, in dem es verboten ist, abends spazieren zu gehen? Oder mit dem Auto zu fahren? Ich nicht. Millionen Deutsche sitzen abends in ihrer Wohnung fest, wenn der Inzidenzwert in ihrer Region ein paar Tage höher als 100 liegt. Aber gibt es einen Aufschrei? Demonstrationen? Bis jetzt ist es erstaunlich ruhig in Deutschland.
Der Begriff "Freiheit" hat gelitten in unserem Land. Er hat einen negativen Beiklang bekommen. Wer davon spricht oder das Wort in den sozialen Netzwerken benutzt, wird schnell verdächtigt, ein Corona-Leugner zu sein. Fast scheint es so, als ob viele Deutsche mit Ausgangssperren sehr gut leben können, sich sogar irgendwie wohl damit fühlen. Dafür gibt es fünf Gründe:
- Entschleunigung
Man ist latent überfordert in Deutschland. Alles geht so schnell. Computer, Börse, Telefon, Mails, Tweets, Netflix – wer soll das alles schaffen? Die Sehnsucht nach mehr Gelassenheit und Ruhe ist groß. Auch wenn das Wissen über digitale Möglichkeiten nicht sehr weit verbreitet ist. Lockdown und Ausgangssperren drosseln die hohe Geschwindigkeit des Lebens zurück auf ein deutsches Mittelmaß.
- Konsumverzicht
In vielen Diskussionen kommt irgendwann die Argumente: Wir brauchen das alles nicht, der Kapitalismus sei an seine Grenzen gestoßen. Weniger ist mehr, predigen die Konsumverzichtler. In gewissen Kreisen hat sich der irrige Glaube durchgesetzt, dass man durch die schmerzhafte Einschränkung des eigenen Konsums, am besten des ganzen Lebens, etwas Gutes täte. Für all die Milliarden Menschen da draußen, die sofort konsumieren würden wie wir, wenn sie nur könnten. Lockdown und Ausgangssperre sind materialisierter Konsumverzicht.
- Kreativität
Freiheit ist anstrengend. Denn sie kommt immer mit Verantwortung. Wer sein Leben selbstverantwortlich gestaltet, läuft sogar Gefahr zu scheitern. Doch Scheitern ist heutzutage keine Option. Jedes Risiko muss abgefedert werden. Lockdown und Ausgangssperre nehmen uns die Verantwortung, unser Leben nach 22 Uhr kreativ zu gestalten. Wir halten uns einfach an die Regel, gehen früh ins Bett und sind die Sorge los, uns irgendetwas einfallen lassen zu müssen.
- Selbstbestrafung
Es ist schon fast ein religiöses Motiv. Diese dunkle Erwartung, dass wir belohnt werden, wenn wir uns quälen. Wenn es besonders weh tut, wird die Erlösung besonders befreiend ausfallen, wogt es in uns. So haben viele religiöse Erzählungen seit Anbeginn der Menschheit funktioniert. Sie transportieren das Versprechen eines besseren Lebens, wenn man sich an strikte Regeln hält – und das eigentliche Leben nicht besonders lebenswert ausfällt. Ähnliches fühlen wir es beim Lockdown und der Ausgangssperre. Je härter die Maßnahmen, desto befreiender wird das Ergebnis sein. Versprochen.
- Solidarität
Menschen sind erkrankt, liegen im Krankenhaus oder sind sogar schon gestorben. Man fühlt sich machtlos im Angesicht dieser Pandemie. Händewaschen und Abstand kann nicht alles sein. Man möchte helfen, um jeden Preis. Da tut es gut, wenn mit Ausgangssperren und Lockdowns ein Instrumentarium geschaffen wird, um unser schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass es uns selbst eigentlich ganz gut geht. Und, wer weiß, vielleicht bringen diese Maßnahmen ja tatsächlich irgendetwas.

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