Seit Dienstag also nun liegt der Kompromissvorschlag auf dem Tisch. Ein aus der Not geborener Bastard, den so recht niemand wirklich will. Statt Impfpflicht mit 18 oder Impfpflicht mit 50 nun also eine Impfpflicht ab 60 Jahren. Er sieht vor, dass die Erfüllung einer zweimaligen Impfung für Menschen ab 60 Jahren bis Oktober verpflichtend sein soll. Sie kann aber im Juni per Bundestagsbeschluss ausgesetzt werden, falls die Impfrate ausreichend gesteigert werden konnte. Im Herbst soll der Bundestag angesichts der dann vorherrschenden Erkenntnisse und potenzieller Virusvarianten zudem entscheiden, "ob zusätzlich die Aktivierung der Impfnachweispflicht für Altersgruppen ab 18 Jahren greifen soll".
Klingt alles eher kompliziert. Und ist es auch, vor allem dank des Zögerns der Ampelkoalition, einen eigenen Vorschlag zur Impfpflicht zu unterbreiten und mit der stabilen Koalitionsmehrheit durchzusetzen. Doch weil sich die FDP Freiheit statt Corona auf die Fahnen geschrieben hat, musste sich Kanzler Olaf Scholz, eigentlich ein bekennender Impfpflicht-Befürworter, dem Willen des kleinen Koalitionspartners beugen und gab die Abstimmung frei. Mit den unliebsamen Folgen, dass zunächst fünf bzw. inzwischen nun noch vier Anträge zur Abstimmung stehen – und der Impfpflicht im Parlament morgen womöglich die Luft ausgeht.
Bislang hat der Kompromiss keine Mehrheit
Darauf deutet einiges hin. Hinter den beiden Ursprungsvorschlägen hatten sich zuletzt etwa 240 (Impfpflicht ab 18) bzw. rund 45 Abgeordnete (Impfpflicht ab 50) versammelt. Das reicht nicht sicher für eine Annahme, auch wenn bei der Abstimmung eine einfache Mehrheit genügt. Es müssen also nicht mindestens 369 aller 736 Abgeordneten dafür stimmen, sondern es wäre genug, wenn von den anwesenden Parlamentariern mehr mit Ja als mit Nein stimmen. Den mutmaßlich 285 Kompromiss-Befürwortern stünden bei voller Anwesenheit theoretisch 197 Abgeordnete der Union, 80 der AFD und rund 50 der Gruppe um den FDP-Vize Wolfgang Kubicki gegenüber. Ziemlich sicher durch ginge der Impfkompromiss nur, wenn sich die Union enthielte. Danach sieht es aber ganz und gar nicht aus.
Welche Länder die höchste Corona-Impfquote haben – und wo der Impfstoff fehlt

Zum einen hat die Fraktion einen eigenen Antrag im Rennen, der ein abgestuftes Verfahren und zunächst die Einführung eines Impfregisters vorsieht. Zum anderen haben Partei- und Fraktionschef Friedrich Merz und weitere Unionspolitiker bereits angekündigt, dass sie – anders als etwa beim Bundeswehr-Sondervermögen – diesmal nicht als Mehrheitsbeschaffer zur Verfügung stehen. Es handele sich um "verkorkste Kompromisse, die die Koalition machen muss, weil sie sich untereinander nicht einig ist", sagte Merz im Deutschlandfunk. Hier zeige sich, "wie zurzeit regiert wird", urteilte der CDU-Chef, nämlich "kurzatmig" und mit "Beschlüssen, die keine 48 Stunden Geltung haben". Merz bezog dies auch auf die Kehrtwende von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bei der Isolationspflicht (über die Sie hier mehr erfahren können).
Der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese, einer der Initiatoren des ursprünglichen "Pflicht ab 18"-Antrags" hofft dennoch darauf, dass sich Abgeordnete von CDU/CSU in nennenswerter Zahl dem aktuellen Kompromiss anschließen. Der Vorschlag der beiden Gruppen sehe "dieselbe Altersgrenze vor, wie der Antrag der Union und schließt auch den Vorschlag der Union für ein Impfregister ein".
Entscheidet die Reihenfolge bei der Abstimmung über die Impfpflicht?
Angesichts der diffusen Mehrheitsverhältnisse ist bereits die Reihenfolge der Abstimmung ein wichtiger Faktor. Normalerweise wird zu Beginn über den Antrag abgestimmt, der an weitesten von der derzeit geltenden Regel abweicht. In diesem Fall wäre das der Kompromiss zur Impfpflicht ab 60. Doch die Ampelparteien überlegen offenbar, die Reihenfolge per Beschluss umzukehren. Dann wäre der AfD-Antrag über die kategorische Ablehnung einer Impfpflicht als erster dran, der Kompromiss als letzter. So müssten sich bislang unentschiedene Abgeordnete quasi erst in letzter Minute entscheiden.

Immerhin: Gesundheitsminister Lauterbach ist zuversichtlich, dass der Kompromissvorschlag im Bundestag eine Mehrheit findet. "Mit großer Wahrscheinlichkeit kriegen wir das durch", hatte der SPD-Politiker in der ZDF-Sendung "Markus Lanz" gesagt. Und trotzdem schon mal aufkommenden Rücktrittsforderungen vorgebaut: Sollte es keine Mehrheit geben, wäre das eine "herbe Niederlage", aber für ihn kein Rücktrittsgrund, sagte Lauterbach.