Jeden Tag erreichen die Corona-Zahlen neue Rekorde. Mit 3G am Arbeitsplatz und in Verkehrsmitteln, 2G im Kultur- und Freizeitbereich und in besonders kritischen Regionen sogar mit Ausgangsbeschränkungen versuchen die Bundesländer dem Trend entgegenzuwirken. Doch Experten warnen, dass sie strengeren Maßnahmen nicht ausreichen werden, um die vierte Welle wirksam in den Griff zu bekommen.
Für viele muss deswegen als letztes Mittel eine allgemeine Corona-Impfpflicht her. Im Nachbarland Österreich soll diese bereits im Februar kommen. Nach Gesundheitsexperten sprechen sich inzwischen auch mehrere Ministerpräsidenten wie Markus Söder und Winfried Kretschmann für die Maßnahme aus. Auch viele deutsche Medien befürworten die Debatte über eine "Ultima Ratio", kritisieren jedoch eine mögliche Hauruckaktion. Ein Überblick.
"Augsburger Allgemeine": Solange es keine Impfpflicht gibt, ist es das Recht jedes einzelnen, sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht impfen zu lassen. Wenn aus der Politik nun eine "moralische Pflicht" angemahnt wird, darf man die Frage stellen, wie sich viele politisch Verantwortliche verhalten: Haben sie nicht ebenso so in den vergangenen Monaten die Realität verdrängt? Gerade die epidemische Notlage geleugnet?
"Berliner Zeitung": Eine Impfpflicht ist ein großer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Man muss ihn abwägen und sehr gut kommunizieren, um weitere Polarisierung und gesellschaftliche Spaltung zu vermeiden. Kommunikation ist allerdings nicht gerade die Stärke der handelnden Kräfte. Das zeigt Spahns Desaster-Kommunikation rund um die Impfstoffe von Biontech und Moderna. Glücklicherweise ergeben Befragungen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung gerade für eine allgemeine Impfpflicht ist. Sogar bei den Impfgegnern gibt es laut Umfragen weniger Widerstand als noch vor einiger Zeit. Die Bevölkerung ist offenbar weiter als die Politik. Das ist eine Chance, wollte man eine solche Pflicht verordnen oder auch nur die Debatte dahin führen, unter welchen Umständen eine Impfpflicht überhaupt käme. Der deutschen Politik ist es allerdings zuzutrauen, alles zu vertrödeln und sich dann wieder zu melden, wenn das Volk längst andere Sorgen hat.
"Frankfurter Rundschau": Corona hat die Gesellschaft gespalten – auch deshalb, weil die Parteien und Bund und Länder es im Bundestagswahljahr nicht geschafft haben, trotz ihres Wissens um die Tücken einer Pandemie gemeinsam mutig und entschlossen voranzugehen. Das Resultat: Auch wenn uns vieles an den Murks vor einem Jahr mit Lockdown-light im November und einem richtigen Lockdown zu Weihnachten erinnert – Deutschland erlebt mit dem zweiten Corona-Winter kein Déjà-vu. Deutschland erlebt ein noch nicht gekanntes Desaster. Am 9. Dezember kommen Bund und Länder wieder zusammen und wollen die gelockerte Corona-Politik ohne Möglichkeit zum Lockdown überprüfen. Gut möglich, dass sie das rückgängig machen und auch eine Impfpflicht erlassen müssen. Um die Krise zu überwinden, müssen zwei wichtige Herausforderungen bewältigt werden: Fehlentscheidungen korrigieren und die Mehrheit zu ihrem Recht kommen lassen. Das ist in einer Demokratie so. Es gibt eine Entscheidung und die gilt dann auch für die Minderheit.
"Neue Osnabrücker Zeitung": Die vierte Corona-Welle wird härter als die vorherigen, weil die Impflücke zu groß ist, sich die Delta-Variante aggressiver verbreitet, die Booster-Impfungen zu langsam vorankommen und die Kapazitäten der Intensivmedizin gesunken sind. Die Mehrheit der Bevölkerung hat ein sinkendes Verständnis für die Minderheit, die sich nicht impfen lässt. Da klingt der Ruf nach einer Impfpflicht nicht abwegig. Diese Ultima Ratio könnte auch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben. Nur was wäre dadurch gewonnen? Die große Gefahr besteht, dass sich Impfgegner, Corona-Leugner und rechtsextreme Gruppierungen weiter radikalisieren. Die versuchte Erstürmung des Bundestages und die Krawalle in etlichen europäischen Städten mahnen, die gesellschaftliche Polarisierung nicht zu ignorieren.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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"Nordbayerischer Kurier": Wenn alle Appelle nicht fruchten, alle Überzeugungsarbeit die Quote der Impfwilligen nicht deutlich steigert, dann kann die Pandemie nur mit staatlichem Druck besiegt werden. Der Königsweg ist das nicht. Doch wenn die Einsicht fehlt, ist Zwang leider nicht zu vermeiden.
"Nürnberger Zeitung": Die derzeitige Corona-Situation dürfte der damaligen Masern-Bedrohung mindestens vergleichbar sein. Dazu kommt, dass die Diskussion um den Sinn des Impfens jetzt hinreichend ausführlich geführt worden ist. Sie hat keine hinreichende Verbesserung des Impfwillens gebracht. Es wird Zeit für mutige Maßnahmen.
"Rhein-Neckar-Zeitung": Es gibt aber auch rational argumentierende Impfkritiker, die sich vielleicht überzeugen ließen. Und um die muss sich die Politik – egal unter welcher Regierung – kümmern: Eine Impfpflicht, die sich bisher nur für Mitarbeitende in sensiblen Bereichen rechtfertigen ließe, muss vorbereitet und breit diskutiert werden. Dazu gehört auch ein offener Umgang mit Behauptungen, die sich entweder als haltlos oder als überambitioniert erwiesen. So ist es nicht gelungen, das Land aus der Pandemie heraus zu impfen – auch, weil die Wirkung der Vakzine unterschiedlich lange vorhält. Weiterhin zur Wahrheit gehört, dass die Auffrischungsimpfung nur aller Wahrscheinlichkeit eine fünfte Welle brechen könnte. Gesichert ist das nicht. Es kommt sehr auf den nächsten Gesundheitsminister an. Karl Lauterbach wäre vom Fach – anders als der Amtsinhaber.
"Rhein-Zeitung": Auch in der Sache führt eine Impfpflicht nicht weiter: Soll die Polizei Patienten abführen und Ärzten zum Zwangsimpfen bringen? Oder will man monatelang um Bußgeld prozessieren? Wer Impfunwillige umstimmen will, muss sie in ihrem Alltag packen. Wenn Argumente sie nicht überzeugen, dann vielleicht ein exklusiver Lockdown: Wer ungeimpft nirgendwo mehr hingehen darf außer zum Supermarkt, findet vielleicht doch den Weg zum Arzt.
"Stuttgarter Zeitung": Denn Deutschland ist Welten entfernt von einer für die Herdenimmunität erforderlichen Impfquote. Die Impfpflicht wäre eine sicher wirksame Maßnahme, um die Impfquote langfristig zu erhöhen. Für die Pflicht spricht sich inzwischen auch eine knappe, in manchen Umfragen sogar eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung aus. Impfen ist keine Privatsache – auch wenn das von einigen anders gesehen und immer wieder als rechtfertigendes Argument gegen das Impfen genutzt wird. Klar ist jedenfalls: Eine Impfpflicht wäre ein weniger drastischer Eingriff in die Grundrechte als die, die uns höchstwahrscheinlich wieder drohen.
"Süddeutsche Zeitung": Wenige Entscheidungen haben das Potenzial, eine Gesellschaft tiefer zu spalten als die Impfpflicht. Das gilt übrigens nicht nur für die Gegner – sondern auch für die diejenigen, deren Geduld mit den Neinsagern aufgebraucht ist. Die Wut kann auch die Seiten wechseln. Was es jetzt braucht, ist der letztmalige Versuch, die Impfquote zu erhöhen – und parallel eine Debatte zu führen, an welchem Punkt eine Impfpflicht unausweichlich wird. Sie gehört in den Ethikrat, die Fachleute der WHO gehören einbezogen. Vor allem aber: Im deutschen Parlament muss diese Frage debattiert werden. Falsch ist eine Pandemie-Bekämpfung, die entweder nichts tut oder zu wenig, oder bruchlos zu den schärfsten denkbaren Maßnahmen greift. Wenn die Impfquote trotz aller Bemühungen nicht steigt, das Virus mutiert, wenn auf die vierte eine fünfte Welle folgt, wird eine Impfpflicht ohnehin unausweichlich werden. Aber das Ja zu einer solchen Maßnahme darf man sich nicht so einfach machen wie das Nein am Beginn dieser Pandemie.