Es ist Silvester 2023, nachmittags, die Geschäfte schließen bereits. Während am Hamburger Hauptbahnhof die Menschen in die Busse und Bahnen strömen, um den Jahresausklang einzuläuten, sitzt Shahab Smoqi hier in einem Café und lernt für seine Masterarbeit. Eigentlich hat er deshalb keine Zeit für Feierei und ist auch nicht wirklich in Stimmung. Seit drei Jahren lebt der 21-Jährige jetzt in Deutschland, er hat einen Uniabschluss, einen festen Job als SAP-Berater, er engagiert sich für den Umweltschutz, doch diese Stadt will ihn trotzdem nicht. Irgendwann im Frühjahr droht ihm die Abschiebung.
Shahabs Frist läuft Ende Februar ab
Mehrere seiner Asylanträge sind bereits abgelehnt worden. Ebenso die Bitte um eine Arbeitserlaubnis. "Die Ausländerbehörde hat mir eine Frist gegeben bis Ende Februar, bis dahin soll ich meinen irakischen Pass vorlegen. Aber der ist im Irak, wie meine anderen Dokumente auch. Ich weiß leider nicht, wie ich die Unterlagen nach Deutschland holen kann", sagt Smoqi.
Sein Heimatland ist an sich schon nicht besonders sicher, und vor allem nicht die Region aus der er kommt: Sindscha im Norden. Shahab ist wie so viele aus der Gegend Jeside. Die jesidische Religion ist vor rund 4000 Jahren in Nahen Osten entstanden. Viele Gläubige betrachten sich mittlerweile als eigene Ethnie, von ihren arabischen Nachbarn werden sie meist skeptisch beäugt. Im besten Fall. Als Mitte der 10er-Jahre die Terrormiliz "Islamischer Staat" ihr Unwesen in Syrien und im Irak trieb, massakrierten deren Kämpfer Abertausende Jesiden.
Im Nordirak wird immer noch gekämpft
Vor einem Jahr hat die Bundesregierung den Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden anerkannt und davon gesprochen, dass Abschiebungen jesidischer Flüchtlinge "unzumutbar" seien. Auch, weil der Norden des Iraks weiter umkämpft ist. Die türkische Luftwaffe bombardiert nach wie vor die dortigen Kurdengebiete und Milizen, versprengte Ex-IS-Kämpfer und andere Rebellen liefern sich blutige Gefechte. Mittendrin: die Jesiden. "Kein Ort im Irak ist für uns sicher. Was mit uns dort passiert, ist Völkermord", sagt Smoqi.
Sicher vor Abschiebung aber sind die Jesiden trotz aller Beteuerungen nicht. "Das Problem haben viele Jesiden im Moment", sagt Zemfira Dlovani, Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden in Deutschland und Rechtsanwältin in Koblenz. Das seien keine Einzelfälle mehr, die Zahl liege im dreistelligen Bereich, so die Juristin.
Auch kranker Familienvater soll zurück
Aus der Gegend von Hannover hörte sie von einem anderen haarsträubenden Fall. Dort wurde einem jesidischen Familienvater kurz nach Neujahr verkündet, dass sein Asylantrag wohl chancenlos sei. Seine Frau war vor 2019 gekommen, als jesidische Flüchtlinge noch problemlos anerkannt wurden, er ist ihr später gefolgt. Psychisch belastet und auch körperlich krank, war er nie in der Lage zu arbeiten und konnte sich nur schlecht integrieren. Dass seine Frau, seine Kinder und seine Schwestern ebenfalls hier sind, spielt für die Behörden offenbar keine Rolle. "Es ist ja richtig, dass Frauen und Kinder einen besonderen Schutz genießen, aber auch Männer sind Opfer des Genozides", sagt Dlovani.

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Das Bundesinnenministerium als zuständige Behörde bezieht sich bei seinen Entscheidungen auf die Einschätzungen des Auswärtigen Amts, die dem ARD-Magazin "Monitor" vorliegt. Danach kommen die Diplomaten zu dem Ergebnis, dass religiöse Minderheiten wie Jesiden weiter unter Diskriminierung leiden würden. "Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen", heißt es "Monitor" zufolge in dem Dokument. Dennoch regelt eine vor kurzem getroffene, aber bislang nicht offzielle Absichtserklärung zwischen Berlin und Bagdad, dass mehr Iraker als bislang abgeschoben werden sollen – Jesiden inklusive.
"Irak ist das Täterland"
Viele Jesiden wollen aber nicht nur wegen nicht zurück in den Irak, weil sie dort um ihr Leben fürchten müssen, wie Zemfira Dlovani sagt: "Sie sind Überlebende eines Genozids. Sie haben ihre Heimat verloren, ihre Häuser, ihre Familien. Für diese Menschen ist der Irak das Täterland, da gibt es kein Vertrauen mehr in die Regierung." Das geht auch Shahab Smoqi so. "Ich will nicht in einem Land leben, das mich nie akzeptiert hat."
50 Tage lang war Shahab unterwegs nach Deutschland. Zu Fuß von Sindscha über die Türkei, Griechenland, den Balkan. Über diese fast zwei Monate redet er nicht gern. Doch nun ist er hier, spricht fließend Deutsch, und gehört zu den dringend benötigten Fachkräften. Mehr kann er kaum tun. Auch sein "Arbeitgeber tut alles, damit ich irgendwie ein Arbeitsvisum bekomme", sagt er. Bislang vergeblich. Jesidenvorsitzende Dlovani beklagt: "Menschen wie Shahab Smoqi sind Vorzeige-Migranten". Bleiben darf er dennoch nicht.
Anmerkung: In der ersten Version des Artikels haben wir geschrieben, das Jesidentum sei ungefähr 800 Jahre alt. Tatsächlich ist es rund 4000 Jahre alt. Wir haben die Angabe korrigiert und bitten den Fehler zu entschuldigen.