Jürgen Rüttgers Einer von der milden Sorte

Er spricht neuerdings viel von einer anderen CDU: weich, mitfühlend, gerecht. Doch eigentlich sind die warmen Worte von NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ein Angriff auf Angela Merkel.

Was will eigentlich die CDU? Wofür steht sie, was hält sie im Innersten zusammen, wovon träumt sie? Keiner weiß das mehr so richtig. Weiß er es vielleicht?

Jürgen Rüttgers, 55, steht in seinem Büro im Düsseldorfer Landtag und guckt durch das geöffnete Fenster hinunter auf den Rhein. "Ja, das Klima", sagt er. "Das Klima ist in Düsseldorf anders als in Berlin." In Berlin sind die Sommer heiß und die Winter kalt. Hier, in der Rheinebene, ist es im Sommer drückend schwül. "Kopfschmerzwetter", sagt Rüttgers. Dafür haben sie im November an manchen Tagen noch 20 Grad.

Draußen fährt jetzt ein Boot mit Leuten von der Gewerkschaft vorbei. Sie haben Tröten dabei, sie demonstrieren gegen sein neues Ladenschlussgesetz. Rüttgers schließt das Fenster: "Es gibt Sachen, die müssen nicht sein."

"Ich bin ganz relaxed"

Bis vor kurzem musste man sich schon sehr für Politik begeistern, um sich für Jürgen Rüttgers zu interessieren. Das ist anders, seit er gefordert hat, dass ältere Arbeitnehmer, die lange Beiträge gezahlt haben, künftig wieder länger Arbeitslosengeld bekommen als jüngere. Die SPD spricht von "Sauerei". In Berlin lässt Angela Merkel ihre Kauders und Pofallas von der Leine, um Rüttgers wieder wegzubeißen. Aber der lässt sich jetzt nicht mehr wegbeißen. Er sagt, die Änderungen beim Arbeitslosengeld seien "ein Gebot der Gerechtigkeit".

Auf dem CDU-Parteitag in Dresden in der kommenden Woche will er sogar über seinen Vorschlag abstimmen lassen. Knapp ein Drittel der Delegierten kommt aus NRW. "Ich bin ganz ruhig, ganz relaxed", sagt Rüttgers. "Aber das sind Debatten, die jetzt geführt werden müssen. Die ganze Aufregung zeigt doch, dass da was ist."

Ein eher unauffälliger Typ

Rüttgers. Brille. Weißes Hemd. Gerne Krawatten in Gelb oder Orange. "Zukunftsminister" war er schon unter Helmut Kohl, aber eigentlich unauffällig, einer von den viel zu vielen im Polit- betrieb, einer, den man schon fast vergessen hatte. Als Kohl weg war, hat er im Ameisengewimmel der Politik lange nach einem neuen Platz für sich gesucht. Den hat er jetzt: stolzer Regierungschef im größten Bundesland, das einst die "Herzkammer der Sozialdemokratie" war. Der Unauffällige liegt in Umfragen mit seiner CDU in NRW bei 41 Prozent - 12 Prozentpunkte über Merkels CDU im Bund. Er müsste eigentlich ein interessanter Mann sein.

Er nickt stets recht freundlich. Beim Gang durch das Abgeordnetengewimmel des Landtags verteilt er kleine Verbeugungen, öfter mal auch ein verschwörerisches Augenzwinkern. Und dann diese Stimme: Es ist eine weiche Stimme, eigentlich angenehm, aber auch ohne Brüche, ohne Mühen und Höhen und Tiefen. Eine Stimme für Gutenachtgeschichten. Eigentlich spricht er gar nicht - eher ist es so, dass die Worte aus diesem Jürgen Rüttgers sanft herausperlen.

Solidarität statt Freiheit

Immer öfter hört man von der Stimme jetzt schöne, warme Sätze. Sie redet von "Neuer Sicherheit" und "sozialem Miteinander". Sie fragt: "Ist es akzeptabel, wenn Firmen mit Milliardengewinnen Tausende Leute entlassen?". Und sie sagt: "Wir haben im Bundestagswahlkampf zu viel über "Flat Tax' und zu wenig über die Menschen geredet."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Eigentlich spricht diese Stimme von einer anderen CDU. Sie zielt mitten ins Herz der Partei - da wo Angela Merkels "Wir wollen mehr Freiheit wagen" nur Leere hinterlassen hat und Ratlosigkeit. Sie will "ins Offene gehen". Er fragt provozierend naiv: "Wie soll ein 55-Jähriger ohne soziale Absicherung ins Offene gehen?" Sie nimmt die Sache, wie immer, sehr persönlich. Sie findet, dass er einer ist, der nicht steht, einer, auf den man sich nicht verlassen kann. Er findet, sie amputiert mit ihrem ewigen Freiheitsgerede die CDU. Und diese CDU ist schließlich auch seine CDU - mindestens so sehr wie ihre. Mindestens.

Bebrillte Volksnähe

Wie regiert so einer? Münster, "Schlachtfest mit Umtrunk" des Schornsteinfegerhandwerks. Jürgen Rüttgers sitzt in der ersten Reihe, ein Chor singt das "Westfalenlied". Richtig mitzusingen traut er sich nicht, der Kompromiss ist ein kaum hörbares Mitsummen. Später sagt er: "Ich mag den Begriff 'Auszubildende' nicht. Wir sagen zu Babys ja auch nicht 'Flüssig zu Ernährende'". Großes Gelächter.

Düsseldorf, St. Martins-Empfang der Bauindustrie. Der Ministerpräsident verteilt Tüten mit Naschereien an einen Kinderchor. Neben ihm steht der lange Friedrich Merz. Beim Foto bleibt Merz einfach stehen, aber Rüttgers kniet sich zwischen die Kinder und macht sich klein, er will auf Augenhöhe sein.

In seiner Rede fragt er: "Kennen sie den Unterschied zwischen Rheinländern und Westfalen? Der Westfale fragt: "Und, was machen wir morgen?" Der Rheinländer fragt: "Und, was machen wir morgen abend?"" Auch hier großes Gelächter. Dann wirbt er für Lehrstellen - "Wir dürfen die jungen Leute nicht im Regen stehen lassen!" - ebenso wie für Sekundärtugenden: "Morgens nicht aus dem Bett kommen, das geht natürlich nicht!"

Es ist eine etwas bemühte, gleichsam bebrillte Volksnähe. Manchmal muss man an "Dr. Udo Brömme" denken, die Kunstfigur der "Harald Schmidt Show", die vor Jahren mal ihr Unwesen in den Niederungen der NRW-CDU trieb. Ausgestattet mit Anzug und Brille gab sich "Dr. Brömme" als Unionspolitiker aus und erzielte mit dem Slogan "Zukunft ist gut für uns alle" große Erfolge.

Rüttgers als bekannter SPD-Politiker

Geschickt ist dieser Rüttgers, er breitet die Arme politisch weit aus. Er privatisiert Wohnungen, dass es den FDP-Koalitionspartner nur so freut - aber die Mieter werden durch eine "Sozialcharta" geschützt. Er gibt den Ladenschluss von montags bis samstags frei - aber am Sonntag, dem Tag des Herrn, müssen die Geschäfte zubleiben. Niedrige GEZ-Gebühren für sozial Schwache fordert er - ebenso wie mehr Musikunterricht: "Ich will, dass im Ruhrgebiet alle Schulkinder bis 2010 ein Instrument wie die Blockflöte spielen können."

Ganz offen stellt er sich "in die Tradition von Johannes Rau", und tatsächlich können sich hinter seiner Politik, wie beim großen, gütigen Landesvater der SPD, irgendwie fast alle versammeln: katholische Landfrauen und Facharbeiter, Handwerksmeister und Betriebsräte. Befragt nach den bekanntesten SPD-Politikern des Landes antworteten in einer Forsa-Umfrage viele: Jürgen Rüttgers.

Schon sieht der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter dahinter ein "Rüttgers-Prinzip", das mit "strategischer List" ein Bündnis von Union und FDP auch bundesweit wieder mehrheitsfähig machen könnte. Aber das "Rüttgers-Prinzip" wäre auch ein Putsch gegen Merkel und alles, wofür sie steht - sozusagen die Rache des katholischen Reihenhauses an der kinderlosen Ost-Frau. "Können Sie mir sagen, warum ich das wollen sollte?", fragt Rüttgers.

Der Intellektuelle als Wortkonditor

Er kommt doch so leise daher - wie einer von der milden Sorte. Seine Rhetorik ist durchsetzt mit neudeutschem Bedenklichkeitsvokabular. Typische Rüttgers-Sätze beginnen mit: "Ich denke", "Ich sage mal", "ein Stück weit" oder "ein kleines bisschen". Anders als viele andere Politiker will Jürgen Rüttgers nicht nur Macht, sondern wird auch umgetrieben von intellektuellen Ambitionen, die sein Tun gleichsam veredeln sollen.

In seinem letzten Buch "Worum es heute geht", einem Taschenbüchlein von etwas mehr als 200 Seiten, hat er es fertig- gebracht, abendländische Geistesgrößen gleich im Dutzend zu zitieren. Im Rüttgerschen Bildungspanorama tummeln sich Goethe und Kant, Rousseau und Pestalozzi, Heisenberg und Wilhelm von Humboldt. Angeregt durch die großen Denker setzt er unaufhörlich neue Begriffe in die Welt. Mal reflektiert er über die "Sinnkoordinaten" des Menschen, dann analysiert er die "ethische Kultur der Neuen Moderne" oder sinniert über das "mutierende Ich" - ein Wortkonditor mit seltsam überzuckertem Vokabular.

Am Ende seiner Ausführungen hofft er stets, dass alles ein "klein bisschen klarer geworden ist". Tatsächlich ist das, was er sagt, weder blöd noch uninteressant. Nur: Was seine Person betrifft, ist eher ein klein bisschen was unklarer geworden.

Kant und Nutella - was heißt das?

In Wahlkampfzeiten hat er viel von sich erzählt - wir konnten teilhaben an einer Idylle anspruchsarmen Kleinbürgerglücks: kleines Eigenheim in Pulheim in der Niederrheinebene, dahinter gleich ein großer Hochspannungsmast. Drei wohlgeratene Söhne. "Mein Mann isst morgens immer gern Nutella", berichtete Ehefrau Angelika. Demnächst soll Jürgen eine Spülmaschine spendieren - bisher wird bei Familie Rüttgers von Hand gespült. Aber wie soll das alles zusammenpassen? Immanuel Kant und Nutella? Und dann auch noch Jean-Jacques Rousseau und Angelikas neue Spülmaschine?

Es ist eine merkwürdige Sache mit diesem Jürgen Rüttgers. Vor dem Hintergrund der Kanzlerin aus dem Osten bekommt er - Rheinländer, katholisch, drei Kinder, Frau daheim - scharfe Konturen. Denkt man sich Merkel aber weg, zerfließt sein Bild in diffuser Beliebigkeit. Auch wenn man Tage mit ihm zugebracht hat, wird es nicht wieder stimmig.

Will er vielleicht einfach nur gefallen? Allem und jedem, dem Hochschulseminar genauso wie der Betriebskantine? Jürgen Rüttgers - 100 Prozent milde Sorte?

Leider den schwarzen Gast übersehen

Es gibt Momente, da kann man sehen, wie das "Prinzip Rüttgers" an seine Grenzen stößt. Einmal, im letzten Landtagswahlkampf, stand er mit seiner Frau auf einer Bühne in Bonn. Die Veranstaltung hieß "Jürgen Rüttgers - ganz persönlich". Unten im Publikum: ein dicker schwarzer Afrikaner in einem knallbunten Umhang. Rüttgers konnte ihn von oben nicht sehen. Der Kandidat erzählte schöne Geschichten, Geschichten, die ihn menschlich und sympathisch machen sollten: "Im Sommer fahre ich immer mit dem Fahrrad durch dieses wunderschöne Nordrhein-Westfalen" oder: "Samstags hole ich immer Brötchen und mache das Frühstück für die Familie."

Als Nächstes sagte er: "Es ist unmöglich, dass ein Afrikaner hierher kommt, und seine Zweitfrau mitbringt und die auch noch kostenlos bei uns krankenversichern will." Donnernder Applaus. Alle guckten zu dem dicken Schwarzen. Der lächelte etwas gequält. Später ließ sich Jürgen Rüttgers mit ihm zusammen fotografieren - "ganz persönlich".

Alles bedeutet alles - und nichts

"Alles hängt eben mit allem zusammen", sagt er. Oder: "Ich bin davon überzeugt, dass wir die Postmoderne als Zeitgeistströmung überwinden müssen." Aber irgendwann wird es komisch. Irgendwann merkt man, wie die schönen, sahnigen Begriffe, die Herr Rüttgers unaufhörlich anrichtet, auftürmt und überzuckert, immer weicher werden. Sie beginnen, ineinander zu zerfließen. Sie heben sich gegenseitig auf. Am Ende können sie alles bedeuten. Alles - und nichts.

"Warum ist die Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit ist?", fragt Jürgen Rüttgers. "Ich meine, die Frage muss man doch mal stellen."

Das Jahr ist alt. Und warm

Später, auf dem Weg zurück nach Berlin, kommen einem seine Worte wieder in den Sinn: die Wirklichkeit - nun ja. Ja, warum ist sie denn nun so, wie sie ist, diese Wirklichkeit? Vielleicht sollte man die Frage tatsächlich mal stellen. Zukunft ist schließlich für uns alle gut.

Oder kann es sein, dass man jetzt, nach ein paar Tagen mit Rüttgers, schon ein wenig neben sich steht? Das mit der neuen, anderen CDU hat man jedenfalls längst schon wieder vergessen. Vielleicht liegt es auch nur am Wetter, so warm, so mild. Noch im November haben sie am Rhein manchmal 20 Grad.

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