Cem Özdemir geht auf das Rednerpult im Berliner Velodrom zu. "Grüssgottle", sagt er, ganz Schwabe, ins Mikrofon, "I bin der Cem Özdemir und i würd übermorgen gern gwählt werre."
Der knappe Satz ist nur ein Testlauf, vor leeren Stuhlreihen in der riesigen Halle des Sportzentrums. Aber er bringt das berufliche Ziel des 47-Jährigen auf den Punkt. So einfach, mit einem Satz wird er allerdings am Wochenende nicht durchkommen, wenn rund 800 Delegierte die Zukunft der Grünen erörtern und am Samstagnachmittag einen Parteivorsitzenden wählen.
Will Özdemir seinen Posten behalten, muss der gebürtige Bad Uracher nachweisen, dass sein Anteil am miserablen Wahlergebnis gering ist. Dass er die Realos führen kann, ohne die Linke zu verprellen. Dass er integrieren kann und das "Flügelschlagen" (Özdemir) beendet, das vor allem auf Neumitglieder befremdlich wirkt, wie er betont.
Seine Chancen auf ein passables Votum stehen schlecht. Die Parteifreunde vom linken Flügel tragen ihm nach, dass er sich bei der Bundestagswahl stark auf Baden-Württemberg konzentrierte und danach sofort - Hand in Hand mit Winfried Kretschmann - gegen Jürgen Trittin vorging.
Özdemir muss glaubwürdig machen, dass er das Boot steuern kann, auf dem seiner Ansicht nach zuletzt "nicht alle in die gleiche Richtung gerudert sind". Dann muss er begründen, dass das Scheitern der von ihm befürwortenden Sondierungsgespräche mit der Union kein Scheitern seiner Politik war. Sondern ein zukunftsweisender Versuch.
Den zu bewerkstelligenden Spagat beschreibt er treffend selbst: "Ich will zusammenbringen, was früher als unmöglich galt. Dass man sich links und wertkonservativ positioniert und dabei auch noch liberal ist, ohne Widerspruch." Und die Ökologie müsse im Zentrum stehen.
Hop oder Top - Özdemir ist am Scheideweg
Ist er aufgeregt? Am Abend vor dem Bundesparteitag sind seine Gedanken bei seiner Tochter und dem Babysitter, den er bald zu Hause in Kreuzberg ablösen muss. Er guckt aus müden Augen, und die Strapazen der vergangenen Wochen sind ihm am blassen Gesicht abzulesen. "Ich bin zuversichtlich", sagt er dann.
Zuversicht braucht er. Seit es im Realo-Flügel kräftig rumort und sich der einzige Ministerpräsident der Grünen, Winfried Kretschmann, als heimliche Führungsfigur der Realos etabliert, ist denkbar, dass Özdemir ein schlechtes Ergebnis einfahren oder gar die Wahl verlieren wird. Dann wäre Özdemir einfacher Bundestagsabgeordneter, und sein Aufstieg in der Partei wäre vorerst beendet.

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Hoffnung auf die dringend benötige Einigkeit gibt ihm der Leitantrag, der unter anderem von Newcomer und Fraktionschef Anton Hofreiter, Fraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt und Oldie Claudia Roth mitgetragen wird. Eigenständigkeit ist darin ein zentrales Stichwort. "Wir wollen vom Verbots-Image wegkommen", sagt Özdemir. Weg vom Fleischlos-Imperativ des Veggie-Days und dem Steuerbelehrertum im Wahlkampf.
Alleingelassen im Parlament
Der von Vermögensabgabe und Energiewende verschreckte Mittelstand und das Handwerk soll wieder Vertrauen zu den Grünen aufbauen können. "Denn wir brauchen die als Partner." Ein Punkt in dem Leitantrag ist auch die Öffnung der Partei für andere Koalitionspartner als die SPD, mit der die Grünen nun dreimal zur Bundestagswahl angetreten sind - und dreimal nicht erfolgreich waren.
Nach der Bundestagswahl warteten die Grünen bisher vergebens auf einen Anruf von SPD-Chef Sigmar Gabriel. Eine mögliche rot-rot-grüne Koalition ist den Sozialdemokraten trotz Mehrheit im Bundestag noch nicht mal ein Gespräch wert. Özdemir würde gerne selbst anrufen, aber: "Wir sind die kleinste Partei und können deshalb nicht einladen." Selbst wenn die drei Parteien nie über ein Gespräch hinauskämen, würde es die Linken, wie Özdemir in jüngster Zeit häufiger sagt "aus der Komfortzone herausholen."
Es klingt ein bisschen nach Hilferuf. Sollte nämlich die SPD nie anrufen und sich ausschließlich auf die Verhandlungen mit der Union konzentrieren, bleibt es den Grünen in der Opposition überlassen, die Linke aus dem politischen Utopia zu erwecken. "Natürlich müssen auch Oppositionsparteien gesprächsfähig sein. Da müssen alle ihre Scheu überwinden", sagt der, der sich als einer der Erfinder der sogenannten Pizza-Connection bezeichnet, einer ehemaligen schwarz-grünen Gesprächsrunde beim Italiener. Gespräche, so hofft Özdemir, würden die Linken dazu zwingen, sich zu Themen wie der Schuldenbremse oder zu den Vereinten Nationen und Deutschlands Rolle darin zu äußern.
Doch nicht nur in dieser Frage lässt die SPD die Grünen allein. Özdemir geht mittlerweile davon aus, dass die große Koalition kommt. "Der SPD-Konvent am Sonntag ist vermutlich reine Formsache", meint er. Dann sind die Grünen und die Linken in einer so kleinen Opposition, dass keine Untersuchungsausschüsse einberufen werden können. Ein dramatisches Erschwernis der Oppositionsarbeit.
Keine Angst vor dem Gegenkandidaten
Angesichts dessen ist es verständlich, dass Özdemir derzeit von seinem Gegenkandidaten Lars Willen aus Oldenburg nur wenig beunruhigt wird. Ja, klar, er kenne den 40-Jährigen, der habe 2002 bereits gegen Reinhard Bütigkofer kandidiert und war mal Abgeordneter im Bundestag. Nur, wie hieß der doch gleich? Özdemir wendet sich an seine Pressereferentin, die schüttelt ebenfalls den Kopf.
Jetzt ist die Partei dran, im Velodrom, wo wenige Studen vor dem Parteitag noch mit Hilfe grüner Kräne grüne Dekoration an der kargen Hallendecke angebracht wird. Özdemir gibt zum Abschied eine Runde Nelken und Kardamon aus, das macht fit und sorgt für frischen Atem, meint er. Sein Gewürzdöschen ist prall gefüllt - am Wochenende wird er eine Extraration davon gut brauchen können.