Wieder nicht geklappt, Deutschland verfehlt erneut sein Klimaziel. Das prognostiziert jedenfalls die Denkfabrik Agora Energiewende, die am Mittwoch ihren Bericht zum CO2-Ausstoß der Bundesrepublik vorlegte. Direktor Simon Müller sprach darin von einem "Alarmsignal", stagnierten die CO2-Emissionen "auf hohem Niveau" – und das "trotz eines deutlich niedrigeren Energieverbrauchs von Haushalten und Industrie". Wo liegt also das Problem?
Unter anderem im Verkehrsbereich, der "deutlich" hinter seinen Klimazielen zurückbleibe. Das liege einerseits an dem wieder gestiegenen Verkehrsaufkommen nach dem Corona-Rückgang, andererseits an "fehlenden politischen Maßnahmen zur Emissionsreduktion", heißt es in dem Bericht. In anderen Worten: Volker Wissing muss liefern.
Schon im vergangenen Jahr hatte der Bundesverkehrsminister von der FDP ein "Sofortprogramm" vorgelegt, das die Einhaltung der Klimaziele in seinem Sektor sicherstellen sollte – und vom Expertenrat für Klimafragen als "schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch" zurückgewiesen wurde. Substanzielle Vorschläge zur Reduktion der Treibhausgase blieb er seitdem schuldig, obwohl das Klimaschutzgesetz auch Wissing dazu verpflichtet. Die Deutsche Umwelthilfe warf dem Minister sogar "Arbeitsverweigerung" vor.
Nun macht Wissing erneut einen Vorstoß. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) forderte er am Dienstag, eine unabhängige Expertenkommission über eine weitere Laufzeitverlängerung der drei Atomkraftwerke entscheiden zu lassen. Es brauche eine "fachliche Antwort auf die Frage, wie wir stabile und bezahlbare Energieversorgung sicherstellen können und gleichzeitig unsere Klimaschutzziele erreichen", so Wissing. Seiner Argumentation folgend, ließe sich der "Hochlauf der Elektromobilität" mit Atomstrom sowohl klimafreundlicher als auch kostengünstiger betreiben als mit klimaschädlichem Kohlestrom.
Laufzeitdebatte wird endgültig zur Langzeitdebatte
Damit wird die Laufzeitdebatte endgültig zur Langzeitdebatte, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Oktober mit einem Machtwort eigentlich beenden wollte. Nachdem sich FDP und Grüne nach langem Streit um den Weiterbetrieb der drei verbliebenen Atommeiler derart verhakt hatten, griff der Kanzler auf seine Richtlinienkompetenz zurück und verordnete einen Kompromiss: Die Kraftwerke können weiterlaufen, jedoch "bis längstens zum 15.4.2023". Von diesen Donnerstag an sind die Meiler damit noch exakt 100 Tage am Netz.
Zuletzt verlangte auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), "diese Debatte (zu) beenden und den Ausbau der erneuerbaren Energien" voranzutreiben. Wissing hält dagegen. "Wir brauchen jetzt keinen politisch Streit und keine Rechthaberei", sagte er der "FAZ". "Wenn wir es politisch nicht diskutieren wollen, dann müssen wir es wissenschaftlich klären." FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner unterstützte den Vorschlag einer unabhängigen Expertenkommission, könne diese dabei helfen, "parteipolitische Verkantungen zu überwinden".
Dabei ist ein Umdenken bei den Grünen, die auch nach Scholz' Machtwort sichtlich zerknirscht waren, wenig realistisch. Atomkraft sei "teuer und gefährlich", sagte Fraktionsvize Julia Verlinden und betonte nochmals das endgültige Ausstiegsdatum Mitte April. "Jeder weitere Versuch mit immer neuen fadenscheinigen Begründungen eine Verlängerung von Laufzeiten in die Debatte zu bringen wird scheitern und verschwendet unnötig Energie." Ähnlich argumentierte SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch, der "alle Koalitionspartner" dazu aufforderte, ihre Kraft nun auf den Ausbau der Erneuerbaren zu konzentrieren.
Mit Wissings wiederholtem Akw-Vorstoß bahnt sich somit auch ein Koalitionsstreit um die deutschen Klimaziele insgesamt an, über die Bundesklimaschutzminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) wacht. Nach der Vorstellung der Agora-Studie nahm er den Verkehrsminister in die Verantwortung, ohne ihn namentlich zu nennen. "Unser Sorgenkind ist der Verkehrsbereich, in dem die CO2-Emissionen erneut gestiegen sind", sagte Habeck am Mittwoch. "Alle bisher vorgesehenen Maßnahmen reichen nicht, um hier die große CO2-Lücke zu schließen." Es bestehe "dringender Handlungsbedarf".
Auch die Grünen-Co-Vorsitzende Ricarda Lang forderte Wissing auf, für eine Senkung des CO2-Ausstoßes im Verkehrssektor zu sorgen. "Wenn Deutschland seine Klimaziele zukünftig erreichen will, müssen alle Bereiche liefern: vor allem auch der Verkehrssektor", sagte sie am Donnerstag. Bisher liege aus dem Verkehrsministerium "kein Vorschlag vor", wie das gelingen solle. Das müsse sich jetzt schnell ändern.
"Ich tippe auf eine Nebelkerze"
Weder Habeck noch Lang stiegen dabei auf die Langzeitdebatte um die Laufzeitverlängerung ein, sehen sie offenbar keinen Bedarf, die Angelegenheit nochmals wissenschaftlich aufzurollen, wie Wissing forderte. Viel zu klären gäbe es da ohnehin nicht, wie Brigitte Knopf zu verstehen gibt. Die stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats für Klimafragen, die seinerzeit schon das vorgelegte "Sofortprogramm" als unzureichend monierte, sieht auch im jüngsten Vorschlag keine Lösung.
Wie Atomkraft dabei helfen soll, die Emissionen im Verkehrssektor signifikant zu senken, erscheine ihr "schleierhaft", sagte sie zur "Süddeutschen Zeitung". "Ich tippe auf eine Nebelkerze." Den Strom würde das nur "minimalst" billiger machen, "und nachhaltig ist es auch nicht". Sinnvoller sei es, die Ökoenergien auszubauen. "Und im Übrigen haben wir nicht das Problem, dass wir zu viele Elektro-Autos haben und nicht mehr wissen, woher wir den Strom bekommen sollen", sagte sie der Zeitung. "Das Problem ist, dass in diesem Land immer noch Diesel- und Benzinautos gekauft werden."
Zwar handelt es sich bei der Agora-Studie zum CO2-Ausstoß der Bundesrepublik um vorläufige Zahlen. Mitte März will das Umweltbundesamt die offizielle Treibhausgasbilanz für 2022 vorlegen. Aber sie zeigen eine erste Tendenz. Auf Verkehrsminister Wissing dürfte weiterhin viel Arbeit zukommen. Und auf die Ampel-Koalition möglicherweise eine noch längere Laufzeitdebatte.
Quellen: Agora Energiewende, Bundesverkehrsministerium, n-tv, "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Zeit Online", "Welt", "Tagesspiegel", Redaktionsnetzwerk Deutschland, "Süddeutsche Zeitung", "Tagesschau"