Auf den ersten Blick sieht alles ganz einfach aus.
In drei Monaten beginnt die Fußballweltmeisterschaft und Hunderttausende strömen ins Land. Darunter ist gewiss eine Extraladung Hooligans; die obligatorischen Taschendiebe, Hütchenspieler und Autoknacker sind sowieso vor Ort. Doch diese Klientel wird der Polizei keine grauen Haare wachsen lassen. Viel schwieriger wäre es, mit Attentätern umzugehen, die den Event für ein politisches Fanal missbrauchen wollen. Auch aus diesem Grund hat die Sicherheit oberste Priorität. Warum also nicht Soldaten einsetzen, als Ergänzung der chronisch überlasteten Polizei? Wer hätte etwas dagegen, wenn die Bundeswehr Stadien, Konsulate und staatliche Gebäude schützen würde? Jeder hat noch die Bilder im Kopf, als die Soldaten bei der Oderflut 1997 kräftig mit anpackten. Die Gesellschaft fühlte, dass in der Not alle zusammenstehen. Und das war gut so.
Seit dem 11. September weiß man zudem, wie sich ein Attentat im schlimmsten Fall abspielt: Terroristen kapern eine Verkehrsmaschine und versenken sie als fliegende Bombe in einem Gebäude. In den USA erwischte es die Twin-Towers, in Deutschland könnten Atomkraftwerke, Banktürme oder der Reichstag im Visier sein. Der gesunde Menschenverstand sagt, dass der Staat uns davor schützen muss, zur Not mit allen Mitteln. Also sollte es gestattet sein, dass der Bundesverteidigungsminister Abfangjäger aufsteigen lässt und die Piloten - falls die Verkehrsmaschine nicht reagiert - auf den roten Knopf drücken. Der Tod einiger Passagiere könnte tausend Andere retten. Das ist eine furchtbare Abwägung, aber eine realistische.
Bunte Liste der Verlierer
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner jüngsten Entscheidung diesen Ideen einen Riegel vorgeschoben. Die Liste der politischen Verlierer ist lang und bunt. Sie beginnt beim ehemaligen Innenminister Otto Schily (SPD), der mit Hilfe der Grünen das Luftsicherheitsgesetz durchzog, das den Abschuss von entführten Fliegern im Notfall erlaubt. Und sie endet beim derzeitigen Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), der seit Wochen dafür plädiert, die Bundeswehr zur Sicherung der Weltmeisterschaft einzusetzen. Nun ist klar, das Schily und Schäuble nur dann eine Chance hätten, wenn das Grundgesetz geändert würde. Dafür aber bräuchte es eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament und im Bundesrat. Im Bundesrat jedoch hat auch die FDP ein Wörtchen mitzureden, weil sie an verschiedenen Landesregierungen beteiligt ist. Und wie es der Teufel so will: Es waren just die FDP-Granden Gerhart Baum und Burkhard Hirsch, die das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführt hatten.
Also bleibt vorerst alles, wie es ist - und das ist vor allem deshalb wohltuend, weil das Bundesverfassungsgericht klar gemacht hat, dass es einen "amerikanischen" Umgang mit dem Gesetz nicht duldet. Der Zweck heiligt eben nicht alle Mittel, es gibt keine Sonder-, Neben- oder Sonstwie-Rechte, die sich der Staat mit Hinweis auf die Terrorismusgefahr kurzerhand aneignen könnte. In Deutschland darf die Regierung keine unschuldigen Menschen töten lassen, auch dann nicht, wenn ihr Tod das Leben einer weitaus größeren Zahl von Mitbürgern schützen würde. Sie darf auch nicht die Bundeswehr für Aufgaben heran ziehen, die eigentlich der Polizei obliegen. Die Verfassung erlaubt die Hilfe der Soldaten bei Naturkatastrophen, die Sicherung von Gebäuden nicht. Das mag manch ein Pragmatiker beklagen, aber die Verwässerung dieser Prinzipien wäre noch viel beklagenswerter. Was wäre, wenn der Staat im Zweifelsfall die Lizenz zum Töten hätte? Müsste er dann nicht auch foltern dürfen, was ja aus dieser Perspektive die schonendere Variante wäre? Und wo würde der Einsatz der Bundeswehr im Innern aufhören, wenn sie sich schon mal im Objektschutz warmlaufen darf? Welcher Minister würde nicht gerne auf Soldaten zurückgreifen, um sich die Kosten für Polizeibeamte zu sparen?
Kein Blankoscheck
Das Dilemma des Urteils ist, dass es für die konkrete Situation keine Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. Gesetzt den Fall, ein Passagierflugzeug würde tatsächlich - vielleicht mit zwanzig Menschen an Bord - auf ein Atomkraftwerk zurasen. Was wäre zu tun? Dem Gesetz zufolge müsste die Regierung angststarr zusehen, auch deshalb, weil die Situation in der Maschine nie zweifelsfrei zu klären wäre. Womöglich dreht sie in letzter Sekunde ab, weil die Terroristen nur drohen wollten. Oder den Passagieren gelingt es doch noch, ihre Entführer zu überwältigen - oder, oder, oder. Gleichwohl gibt es, und auch das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil angedeutet, noch eine andere Option. Die Regierung könnte handeln, den Jet abschießen lassen, und müsste sich dann dem Strafrecht stellen. Ein Freispruch wegen eines "übergesetzlichen Notstandes" wäre möglich - einen vorab ausgestellten Blankoscheck jedoch kann es nicht geben.
Auch Burckhard Hirsch, der mit seinem Engagement gegen das Luftsicherungsgesetz einen Markstein für die Liberalen gesetzt hat, kennt diese Grauzone des Handelns. Im Deutschlandradio sagte er, es könne im Leben Fälle geben, "wo einer sagt: was immer im Gesetz steht - ich folge nur noch meinem Gewissen." Diese Haltung könne "durchaus ehrenwert" sein. Aus der persönlichen Verantwortung aber kann ein Rechtsstaat niemanden entlassen.