Der Bundeskanzler sagt es immer und immer wieder. Er wiederholt es seit Tagen, und auch in seinem Solo bei Maybrit Illner fällt dieser Satz: "Es ist wichtig, dass wir uns nichts vormachen." Olaf Scholz (SPD) spricht die schmerzhaften Wahrheiten aus. Weit mehr Zivilisten werden ihr Leben verlieren – auch mehr Soldatinnen und Soldaten; viele von ihnen sind noch sehr jung. Es droht eine "dramatische Eskalation", so der Kanzler, die "vollständige Invasion der Ukraine". Der Regierungschef stimmt die Bürgerinnen und Bürger darauf ein, dass die furchtbaren Zeiten noch weitaus furchtbarer werden: "Es wird immer schlimmer, je länger der Krieg dauert."
Scholz, einen Tag zuvor erst von einem Israel-Besuch zurückgekehrt, ist blass. Er wirkt angefasst. Er weiß, was viele spüren: Ein Weg, wie der Aggressor, Russlands Präsident Wladimir Putin, zu stoppen wäre, ist nicht in Sicht. Der Kanzler und viele andere haben gekämpft, um diese Tragödie abzuwenden. Bisher vergebens. Scholz' Forderung nach einer Waffenruhe verspricht allenfalls Zeitgewinn für neue diplomatische Anläufe. Wie die genau aussehen könnten, kann aktuell niemand sagen. Auch der Regierungschef nicht. Seine Maßgabe: "nicht aufhören, das zu versuchen."
Es ist nicht einmal eine Woche her, da hat der Kanzler eine "Zeitenwende" ausgerufen: Waffenlieferungen an die Ukraine, weitreichende Finanzsanktionen gegen Russland und 100 Milliarden Euro extra für die Bundewehr stehen für einen Schwenk, dessen Radikalität in den letzten Jahrzehnten einmalig ist. Und an diesem Abend bei Illner scheint es manchmal, als habe der Krieg in der Ukraine auch bei Olaf Scholz selbst eine Wende ausgelöst.
Wer nach dem Start des "neuen Kanzlers" schnell ein Bild von einem langsamen Redner mit chronischem Hang zum Antworten-Verweigern abgespeichert hat, kann jedenfalls jetzt ins Grübeln kommen. Oft wird Scholz' Antwort auf eine Illner-Frage im Bruchteil einer Sekunde herausgeschossen. Hätte Deutschland diesen Krieg mit früheren Entscheidungen für einen Kurswechsel verhindern können? "Nein". Haben die Deutschen die Ukraine zu spät unterstützt und auch zu wenig? "Nein." Ist es reine Privatsache, welche Beziehungen Ex-Kanzler Gerhard Schröder zu Russland pflegt? "Nein."
Schröder als Kumpel des Aggressors
Das Schröder-Thema ist für Sozialdemokraten hochsensibel. Der frühere Kanzler, einst als "Genosse der Bosse" tituliert, scheint sich nun dem Rollenmodell "Kumpel des Aggressors" verschrieben zu haben. Die SPD-Spitze hat gestern Schröder aufgefordert, seine Posten bei Gazprom und Rosneft aufzugeben.
Für (Nach-)Nachfolger und Parteifreund Scholz ist Schröders Verhalten schwer zu ertragen. Denn es schadet dem Land, an dessen Spitze er sieben Jahre stand, und es schwächt vor allem den Kampf gegen Putins beispiellosen Gewaltakt. "Ich finde nicht richtig, dass Gerhard Schröder diese Ämter wahrnimmt, und ich glaube auch, dass es richtig wäre, er würde sie niederlegen", formuliert Scholz kühl. Weiteres Drängen will er Freunden Schröders überlassen.

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Die "Putinversteher": Wer jetzt noch zu Russland hält und warum

Von der EU wird Lukaschenko nicht als rechtmäßiger Präsident von Belarus anerkannt. Westliche Staaten werfen ihm Menschenrechtsverletzungen und Wahlbetrug vor. Trotz – oder möglicherweise gerade wegen – der Sanktionen gegen Belarus und Russland kündigten die beiden Staaten an, ihre Zusammenarbeit weiter auszubauen. Es sei schwer mit den Sanktionen, kommentierte Lukaschenko jüngst. "Aber sie werden uns nicht ersticken können."
Scholz ist klar sortiert. Er weiß, was er sagen und was er – auch in veränderten Zeiten – lieber wortreich unbeantwortet lassen will. Dass keine Koalition Infos über interne Reibereien rausposaunt, ist normal. In der aktuellen Lage allerdings bestimmen oft weniger banale Fragen die Grenzen der Gesprächigkeit: Ein unbedachtes Wort kann Menschen in der Ukraine oder in Russland in tödliche Gefahr bringen.
Zurückhaltend gibt Scholz sich allerdings auch, wenn es um die Sparte "Eingestehen von Fehlern" geht. Und zu den Folgen der Invasion für die ehrgeizigen Pläne der Ampel-Regierung trifft der Chef am Ende des Interviews ein paar Aussagen, die sich seine Kritiker auf Wiedervorlage legen dürften.
Von Sparen ist bei "Maybrit Illner" nicht die Rede
Deutet nicht auch alles darauf hin, dass sich die Menschen in Deutschland auf ein Leben mit weniger Wohlstand einstellen müssen? In Illners Worten: "Wofür wird Geld fehlen, Herr Scholz?" Es folgt ein Redeschwall des Kanzlers. Das mit den 100 Milliarden Euro an Sondervermögen für die Verteidigung sei so vorbereitet worden, "dass wir all die Vorhaben, die wir für ein besseres Zusammenleben in Deutschland, für den Fortschritt, für mehr Gerechtigkeit im Koalitionsvertrag beschrieben haben, für mehr Bildung, dass wir alle diese Vorhaben verfolgen können und auch wollen", sagt er. Auch die Stichwörter "stabiles Rentenniveau", "bessere Absicherung von Kindern", "besseres Pflegesystem", "Mieterinnen und Mieter" fallen.
In den letzten Wochen hat Scholz schmerzhafte Entscheidungen oft erst kommuniziert, als er die Zeit für reif hielt. Für den riesigen Verteidigungs-Kraftakt am Sonntag hätte er zwei Sonntage zuvor kaum auf eine Mehrheit bei den eigenen Leuten zählen können. In Europa lief es ähnlich: Ein europäischer Schulterschluss für die schnelle Aufnahme von Flüchtlingen wäre auf heftigen Widerstand gestoßen, bevor die Tragödie in der Ukraine ihren Lauf nahm.
Wann also wäre die richtige Zeit, Abstriche von den Koalitionsplänen zu kommunizieren? Schon heute zeigt sich hier ein Gegensatz zwischen dem Kanzler und dem Vizekanzler. Robert Habeck (Grüne) erwartet erhebliche Folgen für die Wirtschaft, und er spricht das offensiv an. Habeck hat nicht einmal ausgeschlossen, dass die Klimafrage buchstäblich zweitrangig werden könnte, wenn die Katastrophe für die Welt weiter ihren Lauf nimmt. Korrekter: seinen Lauf, Putins Lauf.
Die schmerzhafteste Frage wird nur umkreist
Doch gibt es in diesen Tagen ein ungleich größeres Tabu als die Frage irgendwelcher Einbußen hierzulande. Immer wieder nähern sich auch an diesem Abend bei Illner der Gast und die Gastgeberin diesem Punkt. Der Westen hilft der Ukraine mit Waffen, mit Geld, mit harten Sanktionen gegen Russland. An einem Grundsatz aber lässt der Kanzler keine Zweifel aufkommen: "Es geht bei allem, was wir machen, darum zu verhindern, dass es zu einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland kommt." Die Ukraine gehört diesem Bündnis nicht an. Es geht darum, die Gefahr eines Dritten Weltkrieges abzuwenden.
Eine überzeugende "Exit-Strategie", um Putin zur Umkehr zu bringen, wurde noch nicht gefunden, räumt Scholz ein. "Wer an dieser Stelle glaubt, es gibt den einen Knopf, auf den man drücken kann, und dann sind die Probleme gelöst, der hätte ihn uns früher mal mitteilen sollen", sagt der Kanzler.